Versicherungen leben von Vertrauen. Und Vertrauen basiert auf Fachkompetenz und verlässlicher Schadensregulierung. Doch was passiert, wenn genau diese Kompetenz verloren geht? Wenn Mitarbeitende das Unternehmen verlassen und mit ihnen das Wissen um Policenverwaltung, Produktportfolios, Tarifgenerationen, Schadensszenarien und regulatorische Prüfpfade? Wenn Onboardings Monate dauern, weil Erfahrungswissen nicht dokumentiert, nicht zugänglich, nicht teilbar ist?

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Die Antwort ist einfach: Unternehmen verlieren an Geschwindigkeit, Qualität und Innovationskraft. Und doch behandeln viele Versicherer ihr Wissensmanagement noch wie eine Nebensächlichkeit. Dabei ist es der strategische Engpass unserer Zeit – gerade vor dem Hintergrund von BaFin-Stresstests, Combined-Ratio-Zielen und steigendem Cost-to-Serve-Druck.

Wissenstransfer muss in der Versicherungswirtschaft zur Top-Priorität werden – und Künstliche Intelligenz (KI) kann eine entscheidende Rolle dabei spielen, ihn neu zu denken.

Warum Wissenstransfer jetzt strategisch entscheidend ist

Die Ausgangslage ist dramatisch: Bis 2036 scheiden in Deutschland 12,9 Millionen Menschen aus dem Erwerbsleben aus. Allein bis 2030 fehlen laut Prognosen drei Millionen Fachkräfte. Der demografische Wandel trifft die Branche dort, wo sie am verwundbarsten ist: beim Erfahrungswissen im Underwriting, der Schadenbearbeitung und der Produktentwicklung.

Gleichzeitig steigen die Anforderungen an Flexibilität, Kundenorientierung und Omnikanal-Fähigkeit und digitale Abschlussstrecken. Neue Produkte, neue gesetzliche Rahmenbedingungen, neue Vertriebskanäle – all das verlangt nach einem agilen Kompetenzaufbau. Doch wie kann das gelingen, wenn gleichzeitig das bestehende Wissen in den Köpfen erfahrener Mitarbeitender verloren geht?

Wissensverlust passiert nicht laut. Er zeigt sich in kleinen Reibungsverlusten, langsamen Entscheidungen, häufigen Nachfragen, langen Einarbeitungen. Und er ist teuer. Studien zeigen: In einem Drittel der Unternehmen sind kritische Informationen nach dem Ausscheiden von Mitarbeitenden nur mit großem Aufwand rekonstruierbar. Und oft bleiben sie für immer verloren.

Ausschlaggebend ist dabei, dass es meist nicht um explizites Wissen geht, das in Handbüchern oder Fachkonzepten steht. Es geht um implizites Wissen – das Wissen über Zusammenhänge, Hintergründe, Erfahrungen, das in Gesprächen, Routinen, Schadenakten und Bearbeitungslogiken lebt. Dieses Wissen macht den Unterschied zwischen stabil laufenden Prozessen und einem dauerhaften Ausnahmezustand.

Laut Schätzungen von McKinsey sind rund 80 Prozent des Wissens in Unternehmen nicht dokumentiert – sondern lediglich in den Köpfen der Mitarbeitenden vorhanden. Demnach entzieht sich der Großteil des unternehmensrelevanten Wissens einer strukturierten Erfassung und wird nur situativ – meist informell – weitergegeben. Genau hier entsteht eine stille, aber strategisch relevante Lücke. Eine Lücke, die sich in Service-Level-Verletzungen, Reklamationsquoten und schlechten Solvency-II-Operations-Reports niederschlagen kann.

Grenzen klassischer Formate: Warum Wikis und Schulungen nicht reichen

Viele Unternehmen reagieren mit Dokumentationen, Wikis oder punktuellen Schulungen. Doch diese Formate greifen oft zu kurz. Wikis veralten, wenn sie nicht aktiv gepflegt werden. Dokumente bleiben abstrakt, wenn sie nicht im Kontext erlebt werden. Und Schulungen sind Momentaufnahmen, keine dynamischen Lernsysteme.

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Hinzu kommt: Das, was wirklich zählt, lässt sich selten standardisiert verschriftlichen. Wie man mit einem schwierigen Betriebskunden umgeht. Warum bestimmte Deckungsentscheidungen in der Vergangenheit getroffen wurden. Welche impliziten Regeln in der Sach- und Haftpflichtbearbeitung gelten. All das lässt sich nicht in eine Excel-Tabelle pressen.

KI als Gamechanger: Vom Human-to-Human zum Human-to-Machine-Transfer

Versicherungen haben besonders gute Voraussetzungen, um zu digitalisieren. Ihr Geschäftsmodell beruht fast vollständig auf nicht-haptischem Wissen – also auf Tarifierungslogiken, AVB-Auslegungen, Risikoprüfungen und Regressbeurteilungen, die sich grundsätzlich gut digital erfassen und verarbeiten lassen. Hinzu kommt eine außergewöhnlich hohe Dichte an Wissensarbeiter:innen: Fachkräfte, deren Tätigkeit sich durch geistige Arbeit, Erfahrung und Entscheidungslogik auszeichnet. Diese Struktur macht Versicherer besonders empfänglich für den Einsatz von KI – nicht nur zur automatischen Verarbeitung von Geschäftsprozessen, der sogenannten Dunkelverarbeitung, sondern auch zur systematischen Wissenssicherung und intelligenten Bereitstellung entlang der Wertschöpfungskette. Gleichzeitig verschärfen Nachwuchsprobleme, Wachstumsziele im Neugeschäft und ein hoher Digitalisierungsdruck die Notwendigkeit, vorhandenes Wissen besser zu nutzen und zukunftsfähig zu machen.

Hier beginnt die Chance. Neue Technologien ermöglichen es heute, Wissen nicht nur zu dokumentieren, sondern aktiv zu erfassen, zu strukturieren und kontextualisiert bereitzustellen. Der Paradigmenwechsel: Wissen muss nicht mehr nur von Mensch zu Mensch weitergegeben werden – sondern kann auch von Mensch zu Maschine transferiert und dort verankert werden.

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Moderne Systeme, häufig von darauf spezialisierten Anbietern entwickelt, nutzen KI-gestützte Interviewformate, um Erfahrungswissen in natürlicher Sprache aufzunehmen, automatisch zu transkribieren und semantisch zu strukturieren. Dabei werden bewährte Methoden aus dem Wissensmanagement – etwa strukturierte Interviews, Expertenbriefings oder Übergabeprozesse – technologisch so weiterentwickelt, dass sie skalierbar und im Alltag einsetzbar sind. Aus diesen Inhalten entstehen lebendige Wissensdatenbanken, die nicht nur Informationen liefern, sondern kontextbezogene Antworten – schnell zugänglich, kontinuierlich aktualisierbar und für verschiedene Rollen differenzierbar.

Ein Beispiel: Eine Sachbearbeiterin aus der Leistungsregulierung einer Krankenversicherung beantwortet Fragen zu typischen Spezialfällen in einem geführten Interview. Das System analysiert, clustert und kontextualisiert die Inhalte und stellt sie anderen Mitarbeitenden im Bedarfsfall zur Verfügung – sei es über ein internes Portal, automatisierte Trainings im Onboarding, als Basis für eine interne GPT oder direkt im Workflow.

Gerade für Versicherungen – unter starkem Regulierungs- und Effizienzdruck – ist das ein enormes Potenzial: Wissen kann so nicht nur geteilt, sondern auch dauerhaft verankert und operationalisiert werden.

Wissen neu denken: Infrastruktur statt Ablage

Damit dieser Wandel gelingt, braucht es eine neue Sichtweise auf Wissen: Nicht als Ablage von PDFs, sondern als strategische Infrastruktur. Ein Asset ähnlich wie Bestände oder Risikotragfähigkeit.

Das heißt: Wissen muss in Prozessen mitfließen, an Schnittstellen übergeben werden, in Onboarding-Strecken integriert sein, kontinuierlich aktualisiert werden. Es geht nicht mehr darum, möglichst viele Dokumente im DMS zu sammeln, sondern die richtigen Inhalte im richtigen Moment für die richtige Person bereitzustellen.

Das gelingt nur, wenn Wissen strukturiert erhoben, qualifiziert, kuratiert und intelligent ausgespielt wird. KI kann hier eine Schlüsselrolle spielen – aber nur, wenn das Fundament stimmt. Saubere Daten, klare Verantwortlichkeiten, eine Kultur des Teilens und am wichtigsten: ein klarer Governance-Prozess zur Sicherung des Wissens.

Wissenssicherung als Führungsaufgabe – aber strukturiert gedacht

Wissenstransfer darf kein Zufallsprodukt oder persönliches Engagement Einzelner bleiben. Was oft fehlt, ist weniger ein kulturelles Umdenken als vielmehr ein verlässlicher, institutionalisierter Prozess: ein Rahmen, der systematisch sicherstellt, dass kritisches Erfahrungswissen nicht verloren geht – unabhängig davon, wer es besitzt oder ob es gerade bewusst weitergegeben wird.

Moderne Systeme machen genau das möglich. Sie schaffen Strukturen, in denen Wissen automatisiert erfasst, kontextualisiert, aktualisiert und im Arbeitsalltag verfügbar gemacht wird. Was früher aufwendig moderiert oder manuell dokumentiert werden musste, lässt sich heute an vielen Stellen technologisch abbilden – etwa durch gezielte Interviews, semantische Analysen oder personalisierte Ausspielung. So entsteht kein Wissensfluss auf Zuruf, sondern ein standardisierter Prozess, der Teil des n Betriebsmodells und der Risiko- und Compliance-Architektur ist.

Führung heißt in diesem Kontext nicht, selbst mehr zu teilen, sondern sicherzustellen, dass die richtigen Systeme und Verantwortlichkeiten etabliert sind, um Wissen im Unternehmen zu sichern. Denn ohne Struktur bleibt Wissen fragmentiert – und das Unternehmen verletzlich.

Wer Wissen verliert, verliert doppelt

Versicherungen stehen an einem Scheideweg: Sie können den drohenden Wissensverlust als administratives HR-Thema behandeln – oder als strategische Chance nutzen. Wer beginnt, Erfahrungswissen systematisch zu erfassen, zu sichern und KI-gestützt zugänglich zu machen, gewinnt weit mehr als Effizienz: Er gewinnt Resilienz und Zukunftsfähigkeit der operativen Kerngeschäfte.

Denn: Wissen ist das einzige Gut, das mehr wird, wenn man es teilt. Und in Zeiten des Fachkräftemangels ist es das wertvollste Kapital, das ein Unternehmen besitzt. Es zu sichern, heißt die Zukunft zu sichern.

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