Der Vertrieb platziert die Grundfähigkeitsversicherung gern als eine einfach zu verstehende Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung. Das ist aber so nicht richtig. Zum einen ist die Grundfähigkeitsversicherung nicht einfach zu verstehen und zum anderen ist sie keine Alternative zur BU-Versicherung. Das ist aber auch nicht richtig. Man muss erstmal definieren, was „einfach zu verstehen“ und was „Alternative“ bedeutet.

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Denn grundsätzlich hat vermutlich jeder schnell eine Vorstellung davon, was eine Grundfähigkeitsversicherung ist, wenn man hört, dass sie beim Verlust von Grundfähigkeiten, wie z.B. Gehen, Stehen, dem Gebrauch der Arme und Hände, Sehen, Hören, Sprechen usw., eine Rente zahlt.

Das Problem ist aber, dass sich die Vorstellung des Kunden in der Regel nicht mit dem eigentlichen Auslöser in der Grundfähigkeitsversicherung deckt. Wenn ich einem Heizungsbauer, der jeden Tag mehrmals Heizungsteile mit einem Gewicht von 250 Kilogramm über Treppen in den Keller trägt, sage, dass bei der Grundfähigkeitsversicherung das Heben und Tragen versichert ist, dann hört sich das für ihn nach einer hervorragenden Versicherung an. Wenn ich ihm dann aber sage, dass mit „Heben und Tragen“ gemeint ist, ein fünf Kilogramm schweres Gewicht von einem Tisch zu nehmen und fünf Meter weit auf ebenem Boden zu tragen, dann ist das vermutlich nicht das, was sich der Heizungsbauer vorgestellt hat.

Der Kunde kann also nur dann die Grundfähigkeitsversicherung „einfach verstehen“, wenn er auch alle Auslöser genau kennt. Und das sind pro Versicherer etwa 20 oder mehr verschiedene. Das geht dann nicht mehr so einfach.

Und der Begriff „Alternative“ stimmt auch nur bedingt. Beides zahlt eine Rente und im Leistungsfall ist zu prüfen, ob eine Krankheit oder Körperverletzung zu einer Einschränkung führt. Bei der Berufsunfähigkeitsversicherung müssen die beruflichen Tätigkeiten, die zuletzt in gesunden Tagen ausgeübt wurden, eingeschränkt sein; und bei der Grundfähigkeitsversicherung eben die in den Bedingungen definierten Grundfähigkeiten.

Eine Überschneidung der beiden Bereiche wäre rein zufällig. Vielleicht ist der Heizungsbauer so eingeschränkt, dass er weder 250 Kilogramm die Treppe hinuntertragen noch fünf Kilogramm über eine Strecke von fünf Metern transportieren kann. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er bereits seit einiger Zeit nicht mehr arbeiten und kein Geld verdienen kann, bevor er so stark eingeschränkt ist, dass er eine Rente aus der Grundfähigkeitsversicherung bezieht. Umgekehrt kann ein Bürokaufmann noch uneingeschränkt arbeiten, obwohl er den Arm nicht mehr auf Schulterhöhe heben kann und deshalb eine Rente aus seiner Grundfähigkeitsversicherung erhält.

Das ist ziemlich unberechenbar und schwer planbar, um damit verlässlich sein Einkommen abzusichern.

Neue Rechtsprechung zur Grundfähigkeitsversicherung?

Als Alternative zur BUV kann die Grundfähigkeitsversicherung nur dann betrachtet werden, wenn eine sogenannte AU-Klausel enthalten ist, die bereits nach sechs Monaten Krankschreibung rückwirkend leistet. Dadurch wären auch psychische Erkrankungen mitversichert, und es bestünde ein klarer Zusammenhang zwischen der Arbeitskraft und der Absicherung.

Apropos „Arbeitskraft“ bzw. „Arbeitsfähigkeit“: Am 11. Dezember 2024 hat der Bundesgerichtshof in einem Urteil mit einem Nebensatz durchaus Aufsehen in der Branche erregt. Der BGH vertritt die Auffassung, dass Paragraf 177 VVG nur auf Versicherungen anwendbar sei, die eine Leistung bei dauerhafter Beeinträchtigung der Arbeitskraft versprechen. Daraus zieht das Gericht den Schluss: „Deshalb ist Paragraf 177 Abs. 1 VVG etwa auf die Grundfähigkeitsversicherung oder die Schwere-Krankheiten-Versicherung unanwendbar […]“. Das würde bedeuten, dass die Grundfähigkeitsversicherung keine Lebensversicherung wäre – und dass hier möglicherweise eine Befristung der Leistung oder eine ordentliche Kündigung zulässig wäre. Eine endgültige Entscheidung bleibt jedoch abzuwarten. Bisher hat noch kein Versicherer versucht, dies in der Praxis anzuwenden.

Dagegen spricht jedoch, dass bereits in der Bundestagsdrucksache 16/3945 zu Paragraf 177 VVG festgehalten wurde, eine analoge Anwendung auf „andere Versicherungen“ sei nicht ausgeschlossen. Ausdrücklich ausgenommen sind nur die Kranken- und Unfallversicherung – selbst dann, wenn diese eine Leistung beim Verlust der Arbeitsfähigkeit versprechen.

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Es geht hier nicht um den Inhalt der AVB, sondern um die Art der Kalkulation. Für die GF-Versicherung und auch die Schwere-Krankheiten-Vorsorge gibt es keine anderen Regelungen. Zudem spricht auch die Kalkulation nach Art der Lebensversicherung dagegen, dass Paragraf 177 tatsächlich nicht auf die Grundfähigkeitsversicherung anwendbar wäre. Aber es bleibt abzuwarten, ob ein Versicherer versuchen wird, einen Bestand zu kündigen oder eine Leistung mehrmals zu befristen.

Die Grundfähigkeitsversicherung als Berufsbildversicherung

Die Grundfähigkeitsversicherung hatte von Beginn an kaum eine Chance, eine echte Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung zu werden. Ich habe schon seit einigen Jahren gesagt, dass sie höchstens als Berufsbild-Versicherung sinnvoll ist – vorausgesetzt, der Tarif orientiert sich nicht mehr an alltäglichen Grundfähigkeiten, sondern an den spezifischen Fertigkeiten, die zur Ausübung eines Berufs erforderlich sind.

Diese Entwicklung begann mit der LKW-Klausel, setzte sich fort mit Prüfverfahren der Berufsgenossenschaft, wie etwa zur Lärm-Exposition, und geht nun mit den neuen Bedingungen der Hannoverschen einen weiteren Schritt. Ihr Baustein „Bauhandwerk“ lehnt sich an das Berufsbild eines Bauhandwerkers an und nutzt dabei einige Definitionen der Berufsgenossenschaft.

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Die selbst definierten Fertigkeiten sind zehn Minuten knien, drei Minuten die Arme über dem Kopf halten, zehn Minuten eine vornübergebeugte Haltung einnehmen, die Benutzung eines Baugerüstes und das Ziehen oder Schieben einer Schubkarre mit einem Gewicht von 30 Kilogramm über eine Strecke von 50 Metern. Hinzu kommt ein Arbeitsunfall, der zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 Prozent führt, sowie der Verlust des Führerscheins der Klasse L oder T, der zum Führen von Traktoren oder Arbeitsmaschinen berechtigt.

Das ist zwar immer noch nicht mit einer BU-Versicherung vergleichbar, da nicht der zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Beruf geprüft wird und psychische Erkrankungen nicht als Auslöser greifen. Aber das Berufsbild ist als solches eben schon erkennbar.

So kann es bei einer angemessenen Beratung schon auch dazu führen, dass der Kunde am Ende den Unterschied verstanden hat und sich wegen des Beitrags für eine Berufsbild- und nicht für eine Berufsunfähigkeitsversicherung entscheidet.

Die Grundfähigkeitsversicherung als „Options-Tarif“

Darüber hinaus bleibt die Grundfähigkeitsversicherung als „Options-Tarif“ interessant. Viele Grundfähigkeitsversicherungen sind bereits in jungen Jahren abschließbar – in der Spitze schon ab dem sechsten Lebensmonat. Bis zu einer BU-Versicherung ist es dann zwar noch einige Zeit hin, aber es kann dennoch sinnvoll sein, den Gesundheitszustand frühzeitig zu sichern. Nicht zuletzt, weil im Leistungsfall keine vorvertragliche Anzeigepflicht mehr entstehen kann, falls etwas in der Akte stand, von dem der Kunde nichts wusste. Denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre ein Leistungsfall eintritt.

Allerdings haben die BU-Optionen in der Grundfähigkeitsversicherung etwas mit den versicherten Grundfähigkeiten gemeinsam: Am Ende ist es nicht ganz das, was man sich vorstellen würde.

Denn bei den meisten Tarifen gibt es eine Wartezeit von fünf Jahren. In dieser Zeit kann die Option also nicht gezogen werden. Das ist vor allem dann blöd, wenn man einem Azubi aus Kostengründen eine GF-Versicherung empfiehlt mit dem Hinweis, dass er diese später, sobald er ein gutes Gehalt bezieht, in eine BU-Versicherung umwandeln kann. Das dürfte nicht klappen, da eine Ausbildung in der Regel keine fünf Jahre dauert.

Andere Versicherer haben keine Wartezeit, dafür sind aber alle Vorerkrankungen, die länger als zehn Tage bestanden, nach dem Ziehen der Option für drei Jahre ausgeschlossen.

Und selbstverständlich kann man die Option nicht einfach dann ziehen, wenn man will. In den meisten Fällen ist dies nur bei Berufsbeginn möglich. Da es hier ziemlich viel zu beachten gibt, habe ich eine Liste erstellt, die über die Website der Fonds Finanz in der Wissenswelt zum Download bereitsteht.

Zusammenfassend ist der Hype um die Grundfähigkeitsversicherung ziemlich offensichtlich vorbei. Aber andererseits scheint sie mehr und mehr ihren Platz im Repertoire zur Absicherung biometrischer Risiken zu finden. Ich würde mir wünschen, dass es künftig mehr Lösungen in Richtung Berufsbildabsicherung gibt. Denn Handwerker brauchen eine sinnvolle Absicherung, die sie bezahlen können.

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Hintergrund: Der Gastbeitrag ist zuerst in der Ausgabe 01/2025 des Fachmagazins Versicherungsbote erschienen. Das Magazin kann auf der Versicherungsbote- Webseite kostenfrei abonniert werden.

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