Trotz der Belastungen durch die Corona-Krise sollen die Altersbezüge deutscher Rentner steigen (Versicherungsbote berichtete). Wer nun die Berichterstattung darüber in führenden Publikumsmedien mit Wirtschaftsteil auswertet, wird feststellen, dass nahezu deckungsgleich argumentiert wird.

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So schreibt beispielsweise Dorothea Siems, Chefökonomin der ‚Welt‘: „Erholt sich die Wirtschaft nach der Krise und klettern die Gehälter entsprechend kräftig, gilt dies dann auch ohne Abstriche für die Altersbezüge. Und die Senioren profitieren umso mehr, je extremer der Einbruch und die darauffolgende Erholung ausfällt. Deshalb hat die Corona-Krise jetzt ein dauerhaft höheres Rentenniveau zur Folge – als wenn es diesen Einbruch nicht gegeben hätte.“ Und weiter: „[…] bei der Berechnung der Rentenanpassung zählt alles mit, was zu den beitragspflichtigen Einnahmen gehört, und damit auch das Kurzarbeitergeld und das Arbeitslosengeld I. Die Beitrags- und Steuerzahler finanzieren somit nicht nur diese in der Krise ausgeweiteten Transferleistungen, sondern haben in der Folge über die rentensteigernde Wirkung auch die langfristigen Zusatzlasten zu tragen.“

Diese Ungerechtigkeit wird auch im Handelsblatt bemängelt; die Aussetzung des Nachholfaktors sei Schuld an dieser Entwicklung. Und für die Süddeutsche Zeitung kommentiert Henrike Roßbach: „Wer jedoch auf die Schieflage in Sachen Generationengerechtigkeit hinweist, dem haben die regierenden Sozialpolitiker der vergangenen Jahren stets bissig vorgeworfen, Alt gegen Jung auszuspielen und den Älteren nicht genügend Respekt entgegenzubringen für ihre Lebensleistung. In Wahrheit aber ist es genau andersherum. Eine Rentenpolitik, die demografischen Entwicklungen zu wenig entgegenzusetzen hat, verursacht genau die Spaltung, die sie zu heilen vorgibt.“

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Tatsächlich hätte man diese Beiträge wohl schon vor einem Jahr schreiben können. Denn sie geben beinahe ungefiltert die Argumente der Wirtschaftswissenschaftler Bert Rürup und Axel Börsch-Supan wider. Deren Position zum Nachholfaktor stellte Versicherungsbote bereits in aller Ausführlichkeit vor.

Laufen die Renten den Löhnen davon?

Doch auch wenn die beinahe einheitliche Argumentation in den Gazetten einen anderen Eindruck zurücklassen mag: Es gibt auch gegenteilige Ansichten. So etwa von Dr. Johannes Steffen, ehemaliger Referent für Sozialpolitik der Arbeitnehmerkammer Bremen und Betreiber des detailreichen ‚Portals für Sozialpolitik‘. Dort führt Steffen aus, dass grundsätzlich zwischen dem beitragspflichtigen Entgelt, wie es sich aus der Versichertenstatistik der Deutschen Rentenversicherung Bund ergibt, und den Bruttolöhnen und -gehältern je Arbeitnehmer nach der Systematik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) zu unterscheiden sei. Sinken die Bruttolöhne, sei das nicht gleichbedeutend mit einem entsprechenden Rückgang des durchschnittlichen beitragspflichtigen Entgelts, schreibt Steffen.

In Rechnungen zeigt er, dass sich Kurzarbeit bei den Versichertenentgelten weniger stark auswirkt als bei den Bruttolöhnen nach Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung. Denn bei Kurzarbeit zählen 80 Prozent der Differenz zwischen Soll- und Ist-Entgelt zum beitragspflichtigen Lohn. „Wechseln also fünf Durchschnittsverdiener in Kurzarbeit Null, so gehen in das durchschnittliche VGR-Entgelt fünf Köpfe mit einem Bruttolohn von Null ein – beim Versichertenentgelt hingegen fehlt nur das Lohn-Äquivalent für einen Durchschnittsverdiener (fünf mal 20 Prozent)“, so Steffen.

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Eine dauerhafte Besserstellung der Renten gegenüber den Löhnen findet seiner Ansicht nach also nicht statt. Die Forderung nach Reaktivierung des Nachholfaktors zielt nach Auffassung von Steffen auf die Senkung des Rentenniveaus ab.

Und die Position von Steffen findet Fürsprecher: Etwa die IG Metall. Dort heißt es in einem aktuellen Beitrag: „Schaut man auf die Entwicklung der beitragspflichtigen Rentenversicherungs-Entgelte sind die in 2021 gegenüber 2020 nicht gesunken, sondern gestiegen. Um die Rentnerinnen und Rentner nicht zu benachteiligen, muss das in 2022 nachgeholt werden.“ Die IG Metall kommt zu dem Schluss, dass die Debatte um vermeintlich ungerechte Rentenanpassungen vorgeschoben ist. Ziel dahinter sei eine weitere Absenkung des Rentenniveaus und gleichzeitiger Ausbau der privaten Vorsorge.

Und auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kann angesichts der Rentenanpassung keine „Übervorteilung der jungen Generation“ ausmachen. Zwar weise der Lohnfaktor in der Rentenanpassungsformel ein Minus von 2,34 Prozent aus, doch tatsächlich seien die Löhne 2020 nur um 0,28 Prozent gesunken, so der DGB. „Die weiteren 2,06 Prozentpunkte fußen auf einem rechnerischen Minus für 2019 durch einen statistischen Effekt, der nichts (!) mit der Lohnentwicklung zu tun hat“, schreiben die Gewerkschaftler und verweisen auf eine ausführliche Darstellung.

Eine fiktive Lohnkürzung, die sich nur aus statistischen Abgrenzungen ergibt, zur Grundlage der Rentenanpassung zu machen, sei unsinnig, so der DGB. Für Anja Piel, DGB-Bundesvorstandsmitglied, ist deshalb klar: „Bei der Finanzierung der Rente ist entscheidend, wie die Kosten zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten verteilt werden – die wirkliche Konfliktlinie läuft also zwischen Kapital und Arbeit und nicht zwischen den Generationen. Wer etwas anderes behauptet, versucht nur die Kosten alleine den Beschäftigten und Rentner*innen aufzubürden.“

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Besonders heikel: Der aufgezeigte Graben verläuft nicht nur zwischen Gewerkschaften und wirtschaftsliberalen Forschungsinstituten und Zeitungen, sondern auch mitten durch die angedachte Ampel-Koalition. Denn die FDP forderte bereits im vergangenen Jahr eine Rückkehr zum Nachholfaktor. Dass die wieder erstarkte SPD ihre traditionell guten Beziehungen zu Gewerkschaften aufs Spiel setzt, dürfte aber unwahrscheinlich sein. Findet sich kein Brückenbauer, könnte die Ampel Sinnbild für Stillstand in der Rentenpolitik werden.

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