Die digitale Transformation setzt das traditionelle Underwriting der Industrieversicherer unter Druck. Eingespielte Prozesse müssen radikal verändert werden. Datensilos, die immer auch persönliche Machtbasen waren, werden aufgebrochen. Künstliche Intelligenz (KI) und Machine Learning (ML) verbessern die Risikoanalyse radikal und erleichtern die Standardisierung bisher hochindividueller Verträge. Die Harmonisierung der IT-Systeme und die Digitalisierung von Prozessen treibt auch in der Industrieversicherung die Dunkelverarbeitungsquoten in die Höhe. Aber was von vielen Underwritern als persönliche Bedrohung empfunden wird, ist tatsächlich eine große Chance zur Erhöhung der eigenen Wertschöpfung und Bedeutung.

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Traditionelles Selbstverständnis scheint bedroht

Das Selbstverständnis im Underwriting basiert auf genauen Kenntnissen von Branchen und einzelnen Kunden sowie auf dem persönlichen Erfahrungsschatz, der zur Risikoeinschätzung befähigt. Diese Eckpfeiler des Selbstverständnisses scheinen bedroht, wenn die eigenen Wissenssilos aufgebrochen und Verträge und Prozesse standardisiert werden; wenn KI in vielen Bereichen schneller bessere Ergebnisse erzielt; wenn ML aus komplexen Mustern schneller Schlüsse zieht und unmittelbar anwendet; wenn die Standardisierung von Verträgen den Großeinsatz „persönlicher Verhandlungs- und Handarbeit“ deutlich reduziert.

Henning Jonen, Versicherungsexperte beim IT-Dienstleister msg systems.msg systems AG

Alles müsse in der Industrieversicherung ganz individuell sein, alles ganz auf die spezielle Situation und das Geschäft des einzelnen Kunden maßgeschneidert – so das traditionelle Credo. Das mag für Großunternehmen mit millionenschweren Prämienzahlungen Jahr für Jahr auch heute noch richtig sein. Für Unternehmen mit hochkomplexen, globalen Engagements und Risiken. Aber für zigtausende Mittelständler oder zum Beispiel Hersteller von Industriegütern ist es nicht richtig. Lange persönliche Verhandlungen über Formulierungen und die Bewertung einzelner Risiken mögen dem Kunden das Gefühl geben, wertgeschätzt zu werden. Aber sie erzeugen am Ende hohe Kosten, die entweder der Kunde über die Prämien trägt – oder die zulasten der Margen der Versicherer gehen.

Individualisierte Verträge machen zudem Konditionen und Risiken schwer vergleichbar. Sie erschweren die digitale Bearbeitung und machen Prozesse komplexer. Bereichsübergreifende digitale Analyse- und Vertriebsaktivitäten werden nahezu unmöglich.

Digitalisierung kann Rolle der Underwriter aufwerten

Werden Verträge und Prozesse stärker standardisiert, heißt das aber nicht „One Size Fits All“. Denn auch Standardverträge lassen durchaus Spielraum, etwa durch branchen- oder größenspezifische Regelungen. Sie sind dabei aber schneller abgeschlossen, können effizient elektronisch verwaltet werden und schaffen mehr Klarheit im Schadenfall.

Auch bei mehr Standardisierung durch Digitalisierung der Prozesse bleibt der Underwriter für die wichtigsten Einzelkunden der Maßschneider. Aber jetzt kann er auch einer großen Zahl der Kunden besser genau das bieten, was sie tragen und bezahlen wollen: Ganze Konfektionen nach „Maß“. Sein Wissen über die Versicherungsnehmer wäre vielleicht weniger persönlich. Seine Kenntnis über Trends und Produkte und somit auch die Wertschöpfung für den Kunden und den Gesamterfolg des Versicherers stiege aber erheblich. Denn die bisher in persönlichen Excel- und Word-Dateien gesammelte Expertise wird in zentralen Systemen für das Unternehmen insgesamt nutzbar.

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Den Underwritern bietet sich die Chance, ihre zentrale Rolle auszubauen, indem sie die Möglichkeiten der Digitalisierung zur fundierten Analyse riesiger Datenmengen aus bisher unzugänglichen Quellen voll nutzen. Dann bleiben sie die Wissensträger und Entscheider. KI als Künstliche Intelligenz wird die Möglichkeiten der Underwriter beflügeln. Denn ihr Wissen wird ungleich größer und ihre Entscheidungen werden fundierter, schneller und besser sein.

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