Ist es rational, nicht privat für das Alter vorzusorgen? Für viele Geringverdiener und auch Mindestlöhner lautet die Antwort: ja. Zu dieser umstrittenen These gelangt zumindest eine US-amerikanische Studie, von der das „Handelsblatt“ am Sonntag berichtet. Der Grund ist stark vereinfacht: Die Betroffenen müssten so viel zurücklegen, dass sich schon im Erwerbsleben ihr Einkommen massiv einschränken. Und haben im Alter nur einen geringen Mehrwert.

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80 Prozent des Bruttoeinkommens angestrebt

Can Low Retirement Savings Be Rationalized?“, heißt die umstrittene Studie der Wirtschaftswissenschaftler Jason Scott, John Shoven, Sita Slavov und John Watson. Die Studie ist vor allem auf das US-amerikanische Sozialsystem zugeschnitten. Die Verbraucherzentralen Bayern und Baden-Württemberg haben die Ergebnisse für die „Wirtschaftswoche“ jedoch auf Deutschland übertragen.

Der Ausgangspunkt: Eine weit verbreitete Faustregel besagt, man solle vom laufenden Einkommen etwa so viel zur Seite legen, dass man im Alter etwa 80 Prozent des vorherigen Bruttoeinkommens - abzüglich Vorsorge - erreicht. So ließe sich das Konsumniveau in etwa halten.

Das aber ist aus Sicht der Verbraucherzentrale sehr teuer. Ein 30jähriger Mindestlohn-Bezieher müsste demnach ein Viertel seines Nettoeinkommens zurücklegen, um bis zum Alter von 90 Jahren einen entsprechenden Lebensstandard genießen zu können - zudem auf sehr bescheidenem Niveau. Bei einem Durchschnittseinkommen wäre immer noch mehr als ein Viertel notwendig.

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Auch eine Studie des Prognos-Institutes zeige, dass Altersvorsorge teuer sei, berichtet das „Handelsblatt“. Demnach müsste ein Arbeitnehmer mit Geburtsjahr 1990 zusätzlich zur gesetzlichen Rente 8,3 Prozent des Einkommens für private Vorsorge ausgeben - um im Alter ein Versorgungsniveau von 55 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zu erzielen.

...wenig Privatvorsorge? Rational erklärbar

Im Aufsatz „Can Low Retirement…“ gehen die vier Ökonominnen und Ökonomen nun der Frage nach, ob es für Menschen mit niedrigem Einkommen nicht höchst rational sein könnte, nur eine geringe Altersvorsorge zu betreiben. Die Antwort: Es gibt durchaus rationale Gründe, auf Privatvorsorge zu verzichten. Hierbei gilt es zu bedenken, dass nach individuellen Einstellungen und Erwartungen gefragt wurde: nicht nach dem tatsächlichen Nutzen der Altersvorsorge.

Um den Verzicht auf Vorsorge erklären zu können, greifen die Verfasser*innen des Papiers auf ein Modell aus der Mikroökonomie zurück: die sogenannte Zeitpräferenz. Sie beobachten, dass die meisten Menschen eine positive Zeitpräferenz-Rate haben. Stark vereinfacht bedeutet dies, sie konsumieren lieber in der Gegenwart als in der Zukunft. Und das aus guten Gründen.

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Mortalitäts- und Morbiditätsrisiken

Folgt man der Argumentation der Studie, macht das Sprichwort: "Spare in der Zeit, dann hast du in der Not" aus individueller Sicht kaum Sinn: zumindest unter den aktuellen Rahmenbedingungen. Das resultiert aus folgenden Gründen:

  • Altersvorsorge ist mit Zukunftsungewissheiten verbunden. So steigt mit dem Alter das Risiko, zeitig zu versterben oder krank und pflegebedürftig zu werden. Gerade Geringverdiener, so die Erwartung, sind als Kranke oder Pflegebedürftige dann ohnehin auf die Unterstützung des Staates angewiesen, der fordert, Ersparnisse oder Zusatzrenten aufzubrauchen.
  • Im betagten Alter lässt Bedürfnis nach Konsum nach: Anhand mehrerer Umfragen stellen die Wissenschaftler eine Grundannahme der Altersvorsorge-Beratung infrage: nämlich, dass es darauf ankomme, ein annähernd gleiches Einkommensniveau im Alter aufrecht zu erhalten wie im Erwerbsleben: besagte 80 Prozent des Nettoeinkommens. Die erwarteten Chancen, im betagten Alter durch Konsum die Lebensqualität zu verbessern, wird von den Erwerbstätigen als geringer eingestuft als in der aktuellen Situation.

    "Einige Menschen werden früh im Ruhestand sterben, andere werden körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen entwickeln, die ihre Reisefähigkeit einschränken sowie die Möglichkeit, das Haus zu verlassen und ihr Geld zu genießen", sagt John B. Shoven, Ökonom an der Stanford University, dem Magazin barrons.com. Während die Grundkosten, etwa für Miete und Essen, gleich bleiben, erwarten die Menschen, dass sie weniger Ausgaben für individuelle Bedürfnisse benötigen werden.

  • Geringverdiener haben geringere Lebenserwartung: Schlimmstenfalls müssen die Betroffenen gar damit rechnen, dass sie für ihren Lebensabend harte Entbehrungen in der Jetztzeit in Kauf nehmen - und dann zeitig versterben, also das Geld im Ruhestand gar nicht ausgeben können. Das gilt vor allem für Geringverdiener, die sowohl in den USA als auch in Deutschland eine deutlich geringere Lebenserwartung haben als Gutverdiener. Ein Viertel des Einkommens für das Alter zurückzulegen, ist in diesem Modell gerade für Niedriglöhner aus individueller Sicht unvernünftig.
  • Geringverdiener würden schon heute unter Sozialhilfeniveau rutschen, wenn sie Konsumniveau im Alter sichern wollen: Ein Paradox der Altersvorsorge ergibt sich daraus, dass Geringverdiener ja ohnehin schon wenig verdienen. Wer nur den Mindestlohn erhält, riskiert in beiden Staaten unter das Sozialhilfeniveau zu rutschen, wenn er eine Sparquote erreichen will, die das Konsumniveau im Alter sichert. Wer in seiner Erwerbsbiographie lange nur ein geringes Einkommen erziele, für den sei eine Sparquote von null optimal, schlussfolgern die Autoren.

In der Zusammenfassung zur Studie heißt es zu den Erkenntnissen: "Diese Überlegungen legen nahe, dass der optimale Verbrauch im Lebenszyklusmodell mit dem Alter abnimmt. Dieser Befund hat erhebliche Auswirkungen auf die optimale Altersvorsorge. Zum Beispiel stellen wir fest, dass es für viele, vielleicht die meisten Menschen in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung auf Lebenszeit optimal ist, ihr Altersguthaben lange vor dem Tod auszugeben und danach allein von den Sozialleistungen zu leben".

Niedrigzins an Kapitalmärkten verschärft das Problem

Eine Bedingung, dass sich Altersvorsorge dennoch aus Sicht der Sparenden lohnt, wäre, dass der erwartbare Zinsertrag aus Geldanlagen diese Gegenwarts-Vorliebe ausgleicht: Also selbst unter Einrechnung der Inflation kein Wertverlust der Ersparnisse zu erwarten wäre. Ein konstanter Konsum mit dem Alter sei "nur unter der genauen und unwahrscheinlichen Bedingung optimal, dass die subjektive Zeitpräferenzrate dem Realzins entspricht", heißt es in dem Papier.

Doch selbst hierfür sind die Hürden hoch. Die typischen Zeitpräferenzraten: Vorteile, die Verbraucher im aktuellen Konsum sehen - würden bei mehr als 20 Prozent liegen, geben die Verfasser*innen zu bedenken. Als Beispiel wird eine Abfindung für US-Militärs genannt. Sie hatten die Wahl zwischen einer sofortigen Einmalzahlung - oder einer späteren lebenslangen Rente. Letztere sei bis zu einer individuellen Zinsrate zu 16 Prozent günstiger für die Soldatinnen und Soldaten gewesen - dennoch wählten 90 Prozent die einmalige Abfindung.

"Der Markt belohnt keine sicheren Investitionen"

"Der Markt belohnt einfach keine Menschen, die den Konsum verschieben, um durch sichere Investitionen zu sparen", sagt Stanford-Ökonom Shoven gegenüber barrons.com. Und macht zugleich auf eine Grundannahme der Studie aufmerksam: nämlich, dass die Betroffenen ihre Renditechancen mit vermeintlich sicheren Geldanlagen wie Anleihen, kapitalbildenden Lebensversicherungen etc. bestreiten. Folglich würden die Ergebnisse zu vorzeitigen Ausgaben nicht für Rentner mit einer hohen Risikotoleranz oder ausreichenden Ersparnissen gelten, da die potenziellen langfristigen Gewinne aus Anlagen wie Aktien deutlich lukrativer seien, so Shoven.

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Darüber hinaus bliebe zu diskutieren, ob und in welchem Umfang spezielle Altersvorsorge-Angebote für Geringverdiener die Thesen der Studie anfechten können. Beispiel Riester-Rente in Deutschland: Aktuell müssen vier Prozent des jährlichen Bruttoeinkommens in einen Riester-Vertrag eingezahlt werden, um die Höchstförderung zu erhalten. Seit Inkrafttreten des Betriebsrentenstärkungsgesetzes bleiben zudem bis zu 200 Euro pro Monat anrechnungsfrei, wenn der oder die Vorsorgende auf staatliche Grundsicherung im Alter angewiesen sein wird. Das Gesetz sollte auch dazu beitragen, den Nutzen der Riester-Rente für diese Zielgruppe zu erhöhen.

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