Um den Verzicht auf Vorsorge erklären zu können, greifen die Verfasser*innen des Papiers auf ein Modell aus der Mikroökonomie zurück: die sogenannte Zeitpräferenz. Sie beobachten, dass die meisten Menschen eine positive Zeitpräferenz-Rate haben. Stark vereinfacht bedeutet dies, sie konsumieren lieber in der Gegenwart als in der Zukunft. Und das aus guten Gründen.

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Mortalitäts- und Morbiditätsrisiken

Folgt man der Argumentation der Studie, macht das Sprichwort: "Spare in der Zeit, dann hast du in der Not" aus individueller Sicht kaum Sinn: zumindest unter den aktuellen Rahmenbedingungen. Das resultiert aus folgenden Gründen:

  • Altersvorsorge ist mit Zukunftsungewissheiten verbunden. So steigt mit dem Alter das Risiko, zeitig zu versterben oder krank und pflegebedürftig zu werden. Gerade Geringverdiener, so die Erwartung, sind als Kranke oder Pflegebedürftige dann ohnehin auf die Unterstützung des Staates angewiesen, der fordert, Ersparnisse oder Zusatzrenten aufzubrauchen.
  • Im betagten Alter lässt Bedürfnis nach Konsum nach: Anhand mehrerer Umfragen stellen die Wissenschaftler eine Grundannahme der Altersvorsorge-Beratung infrage: nämlich, dass es darauf ankomme, ein annähernd gleiches Einkommensniveau im Alter aufrecht zu erhalten wie im Erwerbsleben: besagte 80 Prozent des Nettoeinkommens. Die erwarteten Chancen, im betagten Alter durch Konsum die Lebensqualität zu verbessern, wird von den Erwerbstätigen als geringer eingestuft als in der aktuellen Situation.

    "Einige Menschen werden früh im Ruhestand sterben, andere werden körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen entwickeln, die ihre Reisefähigkeit einschränken sowie die Möglichkeit, das Haus zu verlassen und ihr Geld zu genießen", sagt John B. Shoven, Ökonom an der Stanford University, dem Magazin barrons.com. Während die Grundkosten, etwa für Miete und Essen, gleich bleiben, erwarten die Menschen, dass sie weniger Ausgaben für individuelle Bedürfnisse benötigen werden.

  • Geringverdiener haben geringere Lebenserwartung: Schlimmstenfalls müssen die Betroffenen gar damit rechnen, dass sie für ihren Lebensabend harte Entbehrungen in der Jetztzeit in Kauf nehmen - und dann zeitig versterben, also das Geld im Ruhestand gar nicht ausgeben können. Das gilt vor allem für Geringverdiener, die sowohl in den USA als auch in Deutschland eine deutlich geringere Lebenserwartung haben als Gutverdiener. Ein Viertel des Einkommens für das Alter zurückzulegen, ist in diesem Modell gerade für Niedriglöhner aus individueller Sicht unvernünftig.
  • Geringverdiener würden schon heute unter Sozialhilfeniveau rutschen, wenn sie Konsumniveau im Alter sichern wollen: Ein Paradox der Altersvorsorge ergibt sich daraus, dass Geringverdiener ja ohnehin schon wenig verdienen. Wer nur den Mindestlohn erhält, riskiert in beiden Staaten unter das Sozialhilfeniveau zu rutschen, wenn er eine Sparquote erreichen will, die das Konsumniveau im Alter sichert. Wer in seiner Erwerbsbiographie lange nur ein geringes Einkommen erziele, für den sei eine Sparquote von null optimal, schlussfolgern die Autoren.

In der Zusammenfassung zur Studie heißt es zu den Erkenntnissen: "Diese Überlegungen legen nahe, dass der optimale Verbrauch im Lebenszyklusmodell mit dem Alter abnimmt. Dieser Befund hat erhebliche Auswirkungen auf die optimale Altersvorsorge. Zum Beispiel stellen wir fest, dass es für viele, vielleicht die meisten Menschen in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung auf Lebenszeit optimal ist, ihr Altersguthaben lange vor dem Tod auszugeben und danach allein von den Sozialleistungen zu leben".

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