Facharzt-Besuch: Das „Ärzte-Hopping“ gesetzlich Versicherter?

Nicht wenige gesetzlich Versicherte, die dieses Wochenende ein Interview mit KBV-Chef Andreas Gassen in der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) lasen, dürften sich verwundert die Augen gerieben haben. Sollte es nach Meinung des Ärztefunktionärs den gesetzlich Versicherten doch nicht länger „sanktionsfrei gestattet bleiben, jeden Arzt jeder Fachrichtung beliebig oft aufzusuchen, und oft noch zwei oder drei Ärzte derselben Fachrichtung“.

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Dieses auch als Ärzte-Hopping bezeichnete Verhalten würde „derzeit nicht kontrolliert“, jedoch in Vorstellung Gassens viel genutzt. Grund sei die stufenweise ab dem 01. Oktober 2011 eingeführte und ab 2015 verbindliche elektronische Gesundheitskarte (eGK), die „wie eine Flatrate“ funktioniere. Es würde Patienten geben, „die das gnadenlos ausnutzen.“

Der Gegenvorschlag: Billigtarife ohne Möglichkeit zur Arztwahl

Der Vorschlag des Ärztefunktionärs gegen einen solchen vermuteten Missstand und Missbrauch von Kassenleistungen: Kassentarife sollten eingeführt werden, die abhängig sind von der möglichen Zahl der Facharzt-Wechsel: „Wer sich verpflichtet, sich auf einen koordinierenden Arzt zu beschränken, sollte von einem günstigeren Kassentarif profitieren.“ Wer hingegen „jederzeit zu jedem Arzt gehen möchte“, der müsste eben „mehr bezahlen.“ Teurere Beiträge also erlauben in dieser Vorstellung überhaupt erst einen häufigeren Facharzt-Wechsel. Wer aber weniger bezahlt, dem solle in Zukunft ein solcher Wechsel untersagt werden.

Häufiger Facharzt-Wechsel: Eine für gesetzlich Versicherte eher langwierige Aufgabe

Nun scheint in der Facharzt-Versorgung tatsächlich einiges im Argen zu liegen. Statt eines häufigen Wechsels jedoch wird regelmäßig ein anderes Problem diskutiert: Die Schwierigkeit für gesetzlich Versicherte, überhaupt einen Termin beim Facharzt zu bekommen. So schrieb zum Beispiel die Leipziger Volkszeitung (LVZ) im März diesen Jahres:

Ein Problem, das immer mehr auch ins Problembewusstsein der Politik dringt. Denn als die Bundesregierung im Frühjahr 2019 das so genannte Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) verabschiedete, war ein erklärtes Ziel der Reform von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), lange Wartezeiten für gesetzlich Versicherte auf Facharzt-Termine zu verkürzen (der Versicherungsbote berichtete). So wurde zum Beispiel die Stundenzeit neu geregelt, die Facharztgruppen als offene Sprechstunde anbieten müssen. Ein langes Warten auf Termine und fehlende Neuaufnahmen von Patienten erscheinen demnach als wesentlich relevantere Probleme denn ein zu häufiger Facharzt-Wechsel … schon, weil fehlende Kapazitäten ein solches Facharzt-Hopping doch sehr erschweren dürften.

Patientenschutz-Stiftung sieht freie Arztwahl in Gefahr

Gerade mit Blick auf die Probleme eines arg ausgelasteten Gesundheitssystems stellt sich nun jedoch die Frage, welche Motive Andreas Gassen zu seinen Aussagen veranlassen, mit denen er einzig den Patienten den sprichwörtlichen „Schwarzen Peter“ zuschieben will. Eine vorwurfsvolle Vermutung äußert Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, in Erwiderung auf das Interview gegenüber der dpa: "Wie im Tollhaus“ gehe es bei den hauptamtlichen Ärztefunktionären zu. Denn "jetzt soll das Recht eingeschränkt werden, seinen Arzt frei zu wählen“.

Der Vorwurf scheint keineswegs unbegründet, dass eine Einschränkung der Wahlfreiheit vor allem die Interessen der Ärzte bedient. Sogar aus Sicht der gesetzlichen Krankenkassen kann ein Hinzuziehen mehrerer Fachärzte sinnvoll sein, um die Notwendigkeit operativer Eingriffe oder kostenpflichtige Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) zu hinterfragen. So appellierte zum Beispiel Claudia Wöhler, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Bayern, an die Wahrnehmung eines „Rechts auf Zweitmeinung“, sobald durch einen Arzt zu einem operativen Eingriff geraten wird.

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Demnach handeln Patienten keineswegs verantwortungslos, die mehrere Ärzte aufsuchen. Im Gegenteil: Mehrere Meinungen können sogar zum Vorteil des Versicherten-Kollektivs sein, wenn dadurch unnötige Eingriffe verhindert werden.

Wochenendausflug mit Wehwehchen: Zu Ikea … oder in die Notfallambulanz?

Ein weiteres Thema nutzte Andreas Gassen, um gegen Kassenpatienten zu polemisieren: Die Notfallversorgung im Gesundheitswesen. Das Problem ist akut: Seit Jahren wird festgestellt, dass immer mehr Patienten die Notfall-Dienste in Anspruch nehmen. Das betrifft die Notaufnahmen der Kliniken ebenso wie die Notfallambulanzen, aber auch den ärztlichen Bereitschaftsdienst. So klagte eine Schrift der Bundesärztekammer: Die Zahl der Notfall-Patienten habe sich zwischen 2005 und 2015 nahezu verdoppelt. Die Folge: Eine drohende Überlastung der Notfallversorgung und eine damit einhergehende Unter- und Fehlversorgung von Notfall-Patienten.

Patienten: "Irrsinnige" Anspruchshaltung?

Für KBV-Funktionär Gassen sind die Schuldigen an diesem Missstand erneut die Patienten. Das betrifft aus seiner Sicht besonders die Auslastung der Notfallambulanzen an den Wochenenden. Sei doch die Anspruchshaltung mitunter „irrsinnig“, was Classen über die polemische Äußerung demonstrieren möchte: „Erst zu Ikea, dann in die Notfallambulanz.“ In einer solchen Vorstellung fahren Menschen mit einem zimperlichen Leiden mit der gleichen Selbstverständlichkeit in die Notaufnahme, wie sie zuvor, ganz ohne Eile, noch zum Einkaufen ins Möbelhaus fuhren.

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Sind derartige Vorwürfe aber berechtigt? In der Tat wird auch in der Literatur immer wieder eine neue Erwartungshaltung an eine „Versorgung rund um die Uhr“ diskutiert, wie auch die Stellungnahme der Bundesärztekammer ausführt – und das sogar bei Bagatellfällen.

Ein grundlegendes Problem aber ist: Patienten sind sich häufig nicht sicher, ob es sich um einen Bagatellfall handelt. Auch wissen viele Patienten nicht um weitere Möglichkeiten einer ersten Abklärung und kennen zum Beispiel nicht den Bereitschaftsdienst. Die Notaufnahme erscheint da als erste Idee „naheliegend“. Auch fehlt es schlicht an einem gut organisierten Anlauf-System, das – je nach Dringlichkeit – eine Ersteinschätzung leistet und die Notfallpatienten auf abgestufte Ebenen der Notfallversorgung weiterleitet. Wo Ressourcen knapp werden, müssen diese effizienter organisiert und genutzt werden.

Bundesregierung plant Gesetzreform

Die Bundesregierung hat diesen Handlungsbedarf bei der medizinischen Notversorgung erkannt und plant eine tiefgreifende Gesetzreform. So wurde im Juli diesen Jahres der „Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Notfallversorgung“ vorgestellt und bereits von verschiedenen Akteuren des Gesundheitswesens begrüßt.

Diese Reform beinhaltet verschiedene Lösungsvorschläge. So ist ein neues Verfahren der Ersteinschätzung geplant. Eine wichtige Rolle spielt hierbei der ärztliche Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigungen: Unter der Rufnummer 116117 sollen Patienten Rat erhalten, welche Erstkontaktstelle aufzusuchen ist. Auch soll die Software SmED die Dringlichkeit eines Beschwerdebilds bestimmen und ebenfalls helfen, Betroffene über eine Ersteinschätzung zu einer angemessenen Versorgungsebene zu leiten.

Die Versorgungsebenen sollen zudem besser koordiniert werden. Ein erster Schritt ist die Schaffung Integrierter Notfallzentren als „Thresen“ für den Erstanlauf der Patienten. Diese sollen von Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenhäusern eingerichtet werden. Sektorenübergreifende Versorgungsstrukturen sollen zudem gewährleisten, dass die Versorgungssysteme besser ineinandergreifen.

Zusätzlich ist angedacht, dass der Rettungsdienst als eigenständiger Bereich in das Sozialgesetzbuch Fünf (SGB V) aufgenommen wird – eine Maßnahme, die voraussichtlich eine Grundgesetzänderung vonnöten macht. Derartige Vorschläge zeigen: Die Analyse der Probleme einer zu starken Auslastung der Notfallversorgung ist weiter fortgeschritten, als die Polemik von Gassen vermuten lässt. Aufgrund dieser Tatsache erscheint es erneut nicht nachvollziehbar, dass Classen auch hier einseitig den „Schwarzen Peter“ den Patienten zuschiebt.

Behandlungsanlässe der Notfallversorgung: Zumeist tatsächlich akute Ereignisse

Doch damit nicht genug: Aufgrund von Zahlen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) bietet ausgerechnet das hauseigene Institut der Kassenärzte Anlass, nicht allzu leichtfertig der These Gassens zu folgen. So würden zum Beispiel Daten der letzten Jahre zeigen, dass sich Behandlungsanlässe deutlich in Richtung akuter Ereignisse wie Verletzungen und Schwangerschaftsbehandlungen verschieben, heißt es in einer Pressemitteilung des Zi. Aus dieser Sicht sind die Vorwürfe nicht nur überspitzt, sie gehen auch am grundlegenden Problem fehlender Ressourcen durch eine unzureichende Organisation bei der Notfallversorgung vorbei.

Fehlende Facharzttermine treiben Patienten in die Notaufnahme

Zumal: Die Kritik birgt auch einen Widerspruch. Es sind nämlich gerade fehlende Kapazitäten bei niedergelassenen Ärzten und Fachärzten, die zu einer hohen Auslastung der Notdienste führen. So sucht ein Patient zum Beispiel eher den Notarzt auf, wenn als einzige Alternative im Raum steht, mit ungeklärten Beschwerden lange auf einen Facharzttermin zu warten. Eine Studie des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hat sogar ergeben, dass Notaufnahmen nicht am Wochenende, sondern am Montagvormittag am vollsten sind.

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Hierzu erklärt Westfalen-Lippes Ärztekammerpräsident Theo Windhorst: „Das liegt auch daran, dass 40 Prozent der Patienten, die in eine Notaufnahme kommen, diesen Hinweis von einem niedergelassenen Arzt bekommen haben. Das zeigt, dass unser System an einem Ärztemangel krankt." Und Windhorst übt unter dieser Prämisse ebenfalls scharfe Kritik an den Äußerungen von Gassen: Die Kassenärztlichen Vereinigungen solle lieber ihrem Sicherstellungsauftrag nachkommen, statt Patienten erziehen zu wollen.

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