Als ich die Schnürsenkel meiner neuen “on”-Laufschuhe festzurre, passiert es: Eine Öse am rechten Schuh reißt ein. Das war es nun - mit meinem sonnigen Lauf, aber auch mit meinen Schuhen, für die ich gerade ein Vermögen ausgegeben habe. Ich mache meinem Frust auf Facebook Luft, und schon kurze Zeit später meldet sich eine Mitarbeiterin von “on” bei mir. Ein Foto des kaputten Schuhs reicht - wenige Tage später erhalte ich ein Paket mit einem neuen Paar Schuhe in meiner Wunschfarbe.

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Claire-Michelle Sévin ist Verhaltensforscherin und Produktchefin Customer Experience bei Getsafe.GetsafeIm Nachhinein betrachtet war das ein sehr kritischer Punkt in meiner Kundenerfahrung, gerne auch englisch als Customer Experience oder kurz CX bezeichnet. Wenn das Unternehmen nicht so kulant reagiert hätte, hätte ich vermutlich nie wieder ein weiteres Paar “on”-Schuhe gekauft, geschweige denn würde ich heute von “on” als einem Beispiel für ein exzellentes Kundenerlebnis sprechen.

Ein gutes Kundenerlebnis ist heute ein Muss

Was genau ist denn eigentlich ein “Kundenerlebnis”? Der Autor Matt Watkinson definiert es so: “Das Kundenerlebnis bezeichnet die Qualität jeder Interaktion einer Person mit einem Unternehmen, seinen Produkten oder Dienstleistungen; egal zu welchem Zeitpunkt.” Diese Definition macht deutlich, dass ein gutes Kundenerlebnis subjektiv und nicht auf die Beziehung zwischen Kunde und Unternehmen beschränkt ist. Es geht vielmehr um den Eindruck, den ich gewinne, indem ich als Individuum mit einem Unternehmen und seinen Marken oder Dienstleistungen in Berührung komme. Dazu muss ich nicht notwendigerweise Kunde sein: Auch wenn ich kein Amazon-Prime Konto besitze, habe ich eine Meinung zu der Marke und dem Angebot, da ich damit gewisse Eigenschaften, Vermutungen oder Erfahrungen assoziiere. Auch in diesem Fall spricht man von Kundenerlebnis.

Es ist schwierig, Kunden über ein exzellentes Kundenerlebnis zu gewinnen. Es ist aber ein mächtiges Werkzeug, um Kunden zu halten. Studien zeigen, dass die Kundentreue im Wesentlichen davon abhängt, wie einfach der Kunde es schafft, sein Ziel mit einem Produkt oder eine Dienstleistung zu erreichen. Macht ein Kunde heute eine schlechte Erfahrung, kann er seinem Ärger in den sozialen Medien Luft machen und so potenzielle Kunden vergraulen. Deshalb ist es aus meiner Sicht eine Notwendigkeit und kein “nettes Extra”, sich auf ein ganzheitliches, emotionales Kundenerlebnis zu fokussieren.

Vier Prinzipien für ein exzellentes Kundenerlebnis

Doch wie geht das? Über die Jahre habe ich vier Prinzipien identifiziert, die dabei helfen, ein gutes Kundenerlebnis zu schaffen.

#1 Kennen Sie Ihre Zielkunden

Wer nicht weiss, wer seine Zielkunden sind, kann die Kundenerfahrung auch nicht an deren Bedürfnisse anpassen. Unternehmen brauchen ein klares Bild, in welcher Lebensphase sich die Kunden befinden, was ihre Lebensziele und Werte sind, welche Erfahrungen sie bereits mit ähnlichen Produkten und Dienstleistungen gesammelt haben und was ihnen dabei wichtig ist. Sie sollten wissen, wie Ihre Kunden Kaufentscheidungen treffen und wie ihr Alltag aussieht.

#2 Helfen Sie dem Kunden, seine Ziele zu erreichen

Ein Spruch von Clayton Christensen besagt, dass Kunden ein Produkt oder eine Dienstleistung kaufen, weil sie damit ein bestimmtes Ziel erreichen wollen (“Customers don’t just buy products, they hire them to do a job”). Je einfacher es für den Kunden ist, das Ziel zu erreichen, desto zufriedener und loyaler ist er. Machen Sie sich dieses Prinzip zur Leitidee jeder Kundenreise! Wichtig ist dabei, den Kunden entscheiden zu lassen. Dazu gehört auch, die Kundenreise immer aus Sicht des Kunden zu denken und konsistent zu halten. Denn dem Kunden ist es egal, dass er über seine gesamte Kundenreise mit vielen einzelnen Bereichen eines Unternehmens in Kontakt kommt - etwa mit dem Marketing, der PR-Abteilung, dem Vertrieb oder dem Kundenservice. Wenn die Kundenerfahrung nicht kundenzentriert gestaltet und optimiert wird, kann sich das für den Kunden wie eine Fahrt über eine Strasse mit vielen Schlaglöchern anfühlen: Jedes Mal, wenn ein anderer Bereich die Kundenreise beeinflusst, wird es holprig. Genau das gilt es zu vermeiden - und das verlangt eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Unternehmensbereichen.

#3 Personalisieren Sie die Interaktion mit dem Kunden

Persönliche Kundenkommunikation hat einen zentralen Stellenwert in der Kundenreise. Sie stellt sicher, dass der Kunde relevante Inhalte oder Produktempfehlungen bekommt. E-Mail-Marketing ist zwar schnell und günstig, und es ist ungemein verlockend, regelmäßig Massen-E-Mails an Kunden zu verschicken, um beispielsweise die Vertriebsziele zu erreichen. Doch auch wenn das technisch möglich ist, sollten Sie davon keinen unbedarften Gebrauch machen. Denn dafür gibt es einen Namen - Spam. Kunden bestrafen Spam sofort. Studien zeigen, dass 78% der Kunden sich von Newslettern abmelden, wenn sie zu viele E-Mails erhalten. Ähnlich sieht es mit Push Notifications aus. 48% deaktivieren Push Notifications, wenn sie zwei bis fünf Mal die Woche Benachrichtigungen erhalten. Sind es mehr als zehn Benachrichtigungen in der Woche, nutzen 32% die App überhaupt nicht mehr. Dies sind alarmierende Zahlen, denn Kunden, die sich abmelden oder die App nicht mehr nutzen, sind nicht mehr zu erreichen. Umso wichtiger ist es, Interaktionen zu individualisieren, sodass die Inhalte für den Kunden einen echten Mehrwert bieten.

#4 Testen, testen, testen

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Zu guter Letzt: Testen Sie Ihre Annahmen. Denn die Tatsache, dass jeder von uns selbst Kunde ist, ist nicht immer hilfreich, wenn es darum geht, die beste Kundenerfahrung zu gestalten. Zu verlockend ist die Überzeugung, dass man selbst als exemplarischer Kunde herhalten kann. Dabei vergisst man leicht, dass die Zielgruppe vielleicht ganz anders tickt als man selbst. Seien es quantitative A/B Tests und Experimente oder qualitative Nutzertests, Interviews oder Fokusgruppen - Tests öffnen die Augen und fördern ein echtes Kundenverständnis.

Kundenerlebnis bei unbeliebten, unsexy Produkten

Ich möchte meine Ausführungen gerne mit dem Beispiel Versicherungen schließen. Wenn ich andere nach Beispielen für ein gutes Kundenerlebnis frage, erhalte ich nie Beispiele aus der Versicherungsbranche. Das Kundenerlebnis wird hier noch nicht (ausreichend) fokussiert.

Warum ist das so?

Meiner Erfahrung nach wird das Kundenerlebnis immer dann vernachlässigt, wenn der Kunde eine schlechte Verhandlungsposition hat. In der Energiebranche herrschte zum Beispiel viele Jahrzehnte lang ein Monopol; der Kunde hatte also keine Wahl, welchen Strom- oder Gasanbieter er wählt. Mit der Öffnung des Strom- und Gasmarktes hatte ein Energieversorger plötzlich 700 Konkurrenten. Eine gute Kundenreise wurde zu einem wichtigen Wettbewerbsvorteil.

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Im Versicherungsbereich dagegen war nicht die fehlende Liberalisierung das Problem, sondern eher die mangelnde Übersichtlichkeit und Transparenz der Angebote. Mit der Digitalisierung und der Einführung neuer Vergleichsportale (z. B. Check24) änderte sich dies.

Gleichzeitig haben nur wenige Kunden Lust, sich tiefergehend mit Versicherungen auseinanderzusetzen. Es ist ein „lästiges Übel“, kein sexy Produkt. Im Englischen spricht man auch von einer “Commodity”, also einem austauschbaren, beliebigen Produkt. Aus diesem Grund ist oft der Preis das ausschlaggebende Kaufargument.

Und doch ist es auch hier möglich, ein exzellentes Kundenerlebnis zu schaffen. Das ist nicht einfach, aber notwendig, und zwar aus zwei Gründen: Erstens können sich Unternehemn damit aus der Preisspirale befreien. Kunden sollen nicht wegen des Preises eine Versicherung kaufen, sondern wegen des tollen Services, der reibungslosen Schadenbearbeitung, der einfachen und transparenten vertragsbedingungen und so weiter und so fort. Denn das schafft loyale Kundenbeziehungen. Zweitens ist ein exzellentes Kundenerlebnis auch deshalb relevant, weil die Kunden aus anderen Bereichen ein sehr gutes Kundenerlebnis gewöhnt sind und diese Erwartungen (zu Recht!) auch auf Versicherungen übertragen. Ein gutes Kundenerlebnis ist also ein klarer Wettbewerbsvorteil.

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Und nun?

Nun hoffe ich, dass Sie Lust haben, sich Ihre eigene Kundenreise einmal näher anzusehen. Wo kommt Ihr Kunde mit Ihrem Produkt, Ihrem Service, Ihrer Marke in Berührung? Ist die Erfahrung konsistent? Macht es Spaß? Was ist schon sehr gut? Was könnten Sie verbessern? Ich freue mich auf Ihre Rückmeldungen! In diesem Sinne: Frohes Tüfteln an der Kundenreise!

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