Versicherungsvermittler sollen im bestmöglichen Interesse der Kunden handeln: So lässt sich die Maxime der Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD umschreiben. Eine aktuelle Studie der Managementberatung 67rockwell kommt nun zu dem Ergebnis, das diese Maxime möglicherweise noch zu oft verletzt wird. Und zwar von den deutschen Versicherern selbst, die online Versicherungen verkaufen. Sie begehen damit möglicherweise einen Rechtsbruch, so warnen die Verfasser. Denn rechtlich verbindliche Standards werden nicht eingehalten.

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Es fehlt eine vollständige und rechtskonforme Antragsstrecke

Durchgeführt haben die Studie Tim Braasch, Gründer des Hamburger Beraterhauses, Matthias Beenken, Professor für Versicherungswirtschaft an der Fachhochschule Dortmund sowie Fachanwalt Maximilian Teichler. Ihre Ergebnisse lassen aufhorchen. Ein „erheblicher Teil der deutschen Versicherer“ habe „offensichtlich signifikante Probleme, die geforderten Standards umzusetzen“, heißt es in einem Pressetext von 67rockwell. Oder in konkreten Zahlen: 30 Prozent der online vertreibenden Versicherer handeln sehr wahrscheinlich rechtswidrig: immerhin fast jeder dritte. Bei den Sach- und Unfallversicherern seien es sogar bis zu 50 Prozent.

Was also läuft schief? Konkret geht es um Artikel 20 der IDD. Darin sind „Standards für die Beratung sowie den Vertrieb ohne Beratung“ festgehalten, die jeder Versicherungsvertreiber einhalten muss. Sie schreiben auch im Online-Geschäft vor, dass beim Verkauf von Versicherungen zunächst die Wünsche und Bedürfnisse des Kunden obligatorisch abgefragt werden müssen. Der Vertreiber muss daran orientiert den passenden Vertrag im Sinne des Kunden aussuchen — und begründen, warum eine Police zu den Wünschen und Bedürfnissen passt.

Hier aber hapert es: Schon bei der Antragstrecke werden die rechtlichen Vorgaben der IDD-Richtlinie nicht eingehalten, warnen die Studienmacher. "Es ist ausgesprochen bedenklich, dass es trotz erheblicher Investitionen in die Digitalisierung nur wenige deutsche Versicherer schaffen, ihren Kunden online eine vollständige und rechtskonforme Antragsstrecke bis zum Produktabschluss anzubieten", fasst Tim Braasch, Leiter der Studie, die Ergebnisse der Analyse zusammen. Die Frage- und Aufklärungspflicht werde von den Versicherern sehr wahrscheinlich nicht erfüllt, wenn sie per Mausklick Verträge vermitteln.

"Versicherer und Vermittler sollten sich darüber im Klaren sein, dass sie sich unter Umständen serienmäßige Probleme ins Haus holen“, ergänzt Matthias Beenken. Deutsches und europäisches Recht stimme vor allem in Bezug auf die Frage-, Aufklärungs- und Beratungsanforderungen nicht überein, warnt er. Das deutsche Recht vermenge Frage-, Aufklärungs- und Beratungspflichten und erwecke den Eindruck, mit einem Beratungsverzicht entfiele auch die Frage- und die Aufklärungspflicht. Das sei aber nicht der Fall. Im europäischen Recht würden letztgenannte Pflichten als unverzichtbare „Standards für den Vertrieb ohne Beratung“ definiert.

Viele Versicherer verzichten online auf Beratung

Hier sei daran erinnert, dass viele Versicherer online mit ihren Kunden einen Beratungsverzicht vereinbaren. Als "Königsweg" der Versicherer, so zeige die Studie, wird ein Ansatz aus "Beratung und Beratungsverzicht" genutzt, so berichten die Studienautoren im Pressetext. Dem gegenüber stehe das von den Vergleichsportalen gewählte Modell aus "Beratung ohne Beratungsverzicht“. In beiden Fällen aber werde der Begriff „Beratung“ nur als Erfüllung der gesetzlichen Fragepflicht verstanden, nicht aber als Beratung im Sinne der IDD. Denn Wünsche und Bedürfnisse des Kunden würden gar nicht oder nur unvollständig abgefragt.

Folglich ist die Antragsstrecke sehr wahrscheinlich mangelhaft. Unter Umständen können die Versicherungsnehmer später geltend machen, dass der Vertrag nicht rechtmäßig zustande gekommen sei, und zurücktreten - trotz vereinbarten Beratungsverzichts, warnt Beenken.

Um das zu vermeiden, müssten die Versicherer noch konkreter nach Wünschen und Bedürfnissen der Kunden fragen, mahnen die Studienautoren. Zum Beispiel, indem sie genauer die konkrete Lebenssituation des Antragstellers in den Blick nehmen: etwa, ob er Kinder hat, gerade ein Haus baut und so weiter. Auch ein Beratungsprotokoll helfe kaum weiter, wenn nach Wünschen und Bedürfnissen nicht gefragt werde. "Häufig wird durch das Erstellen eines Beratungsprotokolls über die eigentlich fehlende Beratung hinweggetäuscht", so Studienleiter Braasch.

"Nur die konsequente Orientierung an Artikel 20 IDD inklusive der obligatorischen Fragen nach Wünschen und Bedürfnissen des Kunden, dem Angebot eines dazu passenden Vertrages inklusive der Begründung sowie die erforderliche Dokumentation schaffen hier die dringend notwendige und gewünschte Rechtssicherheit - sowohl für Kunden als auch für Versicherungsunternehmen und Vermittler", kommentiert Tim Braasch weiter.

Versicherer forderten Online-Beratungsverzicht im Gesetzgebungsverfahren

Der Hintergrund: Um die Möglichkeit eines Beratungsverzichtes im Fernabsatz hatten die deutschen Versicherer im IDD-Gesetzgebungsverfahren lange gerungen und sie in Stellungnahmen des Dachverbandes GDV eingefordert. Auch das kann die Unschärfe im deutschen IDD-Gesetz begünstigt haben. Die Vorstöße führten sogar zu Konflikten mit den eigenen Vertriebskanälen, die befürchteten, die Versicherer wollen schnell online Policen verkaufen: ohne Beratung und über ihre Köpfe hinweg. Denn während "stationäre" Vermittler enge Beratungspflichten haben, sollte der Online-Vertrieb mutmaßlich davon befreit werden: ein Ungleichgewicht zu Ungunsten jener, die noch persönlich beraten?

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Wie angespannt die Stimmung war, zeigte ein Vorgang auf der Jahrestagung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) im Juni 2017. Bei der Veranstaltung sagte der frühere Verbandschef Alexander Erdland: „Wo der Kunde online abschließen und keine persönliche Beratung will, darf der Gesetzgeber eine Beratung nicht aufoktroyieren“. Eine Aussage, die bei den anwesenden Vertretern für Unmut sorgte. Die Veranstaltung wurde durch laute Zwischenrufe gestört: Der Vorstoß der Versicherer wurde als grobes Foulspiel gegenüber den eigenen Agenturen gewertet (der Versicherungsbote berichtete).

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