Versicherungsbote: Auf der Bundesvertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung konnte man den Eindruck gewinnen, alles sei in Ordnung und die Finanzierung der Rentenkasse gesichert. Bei Ihnen liest man, die Finanzierung müsse stabilisiert werden. Warum haben Sie eine so andere Sicht auf die Dinge als zum Beispiel Anja Piel? Die Vorsitzende der Bundesvertreterversammlung hält keine zusätzlichen Bundeszuschüsse bis 2025 für nötig.

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Dr. Maximimilian HappacherDr. Maximimilian Happacherstellv. Vorstandsvorsitzender der Deutschen Aktuarvereinigung seit 28. April 2021DAVDr. Maximilian Happacher: Das ist eine Frage der Herangehensweise: Wenn die Rentenversicherung nach den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik kalkulieren müsste, würde wohl auch das Urteil von Frau Piel anders ausfallen. Denn der Kerngedanke einer Versicherung ist, dass sich Leistungen aus Beiträgen speisen. Das ist bei der gesetzlichen Rente aber nur in Teilen der Fall. Von den knapp 327 Milliarden Euro Einnahmen im Jahr 2019 waren laut Rentenatlas fast 99 Milliarden Bundes- und damit Steuerzuschüsse – Tendenz weiter steigend. Es ist nicht die Aufgabe der Aktuarinnen und Aktuare diese sozialpolitischen Entscheidungen zu bewerten, aber es ist unsere Aufgabe, hier Transparenz herzustellen. Ein zweiter wesentlicher Aspekt ist der Zeithorizont für die Betrachtung. Der Blick darf nicht nur bis zur übernächsten Bundestagswahl im Jahr 2025 gehen. Die Rente ist ein lebenslanges Versprechen. Um den Jungen keine unverantwortbaren Lasten aufzubürden, fertigen wir Aktuare Vorausberechnungen für Jahrzehnte und teilweise sogar für die nächsten 100 Jahre an. Das verlangt vielfach sogar die Aufsicht von uns. Vor diesem Hintergrund spricht außer politischen Erwägungen nichts dagegen, dass auch die gesetzliche Rentenversicherung einen Blick weit über das Jahr 2030 hinaus wirft und damit den Menschen hierzulande Planungssicherheit für ihr Berufsleben und ihre Rentenphase gibt. Und die Verantwortung für diese langfristige Planung darf nicht von einer Rentenkommission in die nächste verschoben werden. Die Zeit für die voraussichtlich unangenehmen Wahrheiten ist jetzt gekommen.

Ist die Deutsche Rentenversicherung stabil über das Jahr 2030 hinaus finanziert?

Happacher: Diese Frage stellen sich aktuell wahrscheinlich viele Deutsche. Und leider bleibt die Bundesregierung darauf bislang eine verlässliche Antwort schuldig, da sich erst eine neue Regierungskommission dieser Frage annehmen soll. Wenn man sich aber die Berechnungen des wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums oder des Instituts der deutschen Wirtschaft ansieht, kann man als Bürger schon die eine oder andere Sorgenfalte bekommen.

Sie fordern, dass die Politik stärker als bisher die Auszahlphase der Rente in den Blick nehmen soll. Was genau meinen Sie damit?

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Happacher: Erst einmal ist es sehr zu begrüßen, dass sich fast alle Parteien nun zum notwendigen Ausbau der kapitalgedeckten Altersvorsorge bekannt haben. Denn in Zeiten des demografischen Wandels wird das der einzige Weg sein, auch den nächsten Rentnergenerationen einen würdevollen Lebensabend zu sichern. Das Problem ist aber, dass die vorgestellten Pläne einer Deutschland-, Generationen- oder Aktienrente die hoch komplexe und vor allem jahrzehntewährende Auszahlungsphase außer Acht lassen. Ein 2020 geborenes Mädchen hat laut der aktuellen Kohortensterbetafel des Statistischen Bundesamts eine Lebenserwartung von gut 93 Jahren, ein Junge von gut 90 Jahren. Damit ergibt sich eine Rentenbezugsdauer von 25 Jahren und mehr. Aber in den Konzepten der Parteien finden sich keine bzw. nur unzureichende Aussagen dazu, wie ab Beginn der Ansparphase bis zum Lebensende eine Mindestzahlung zur Absicherung der Bürgerinnen und Bürgern ausgestaltet werden soll. Diese Planungssicherheit ist für die Deutschen zur Finanzierung der Grundbedürfnisse aber sehr wichtig.

„Es reicht eben nicht, zum Renteneintrittsdatum ein Sparvermögen von 200.000 Euro in Aussicht zu stellen“

Happacher:Um es kurz zu sagen: Es reicht eben nicht, zum Renteneintrittsdatum ein Sparvermögen von 200.000 Euro in Aussicht zu stellen und die Menschen dann damit allein zu lassen, wie sie das auf ihr Leben aufteilen. Im schlimmsten Fall ist noch Leben übrig, wenn das Geld aufgebraucht ist, sodass die Senioren nach einem langen, arbeitsreichen Leben und einem anfänglich auskömmlichen Ruhestand am Ende doch noch auf die staatlichen Sicherheitsnetze angewiesen sind. Das kann ganz sicher nicht im Interesse der Gesellschaft sein. Deshalb: Wer JA zur kapitalgedeckten Ansparphase sagt, muss auch JA zur kollektiven Auszahlungsphase sagen. Das sind zwei Seiten derselben Rentenmedaille.

Lässt sich Ihr Plädoyer für einen stärkeren Fokus auf die Auszahlphase auch als Argument für eine längere Lebensarbeitszeit verstehen?

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Happacher: Wichtig ist, dass die Gesellschaft und die Politik auch bei dieser Stellschraube des Rentensystems eine ideologiefreie Debatte beginnt, die auf dem unumstößlichen Fakt fußen muss: Wie lange ein einzelner Mensch lebt, wird immer ungewiss bleiben. Aber sicher ist, dass die statistische Lebenserwartung seit Jahrzehnten steigt und sich diese Entwicklung auch aktuell fortsetzt. Dazu kommt, dass ungefähr die Hälfte aller Menschen länger leben wird, als es die statistische Lebenserwartung anzeigt. Dem muss ein nachhaltiges Altersvorsorgesystem Rechnung tragen und gleichzeitig einen Kompromiss finden, der zum einen Härtefälle abfedert und zum anderen Generationengerechtigkeit sicherstellt – denn nur so kann der soziale Friede gewahrt werden. Am Ende werden alle Beteiligten Zugeständnisse machen müssen. Hierzu gibt es von zahlreichen Experten seit Langem verschiedene Vorschläge: Sei es, das fixe Renteneintrittsalter oder auch eine Lebensarbeitszeit für den abschlagsfreien Zugang in die Rente an die Entwicklung der Lebensentwicklung zu koppeln. Diese Gedanken sollten als ein Baustein einer umfassenden Rentenreform ohne Denkverbote weiterverfolgt werden.

Ein weiterer Punkt, den Sie bemängeln, ist die Intransparenz bei der Verwendung von Steuerzuschüssen. Wie lautet Ihre Forderung hier konkret?

Happacher: Wir bewerten nicht die Höhe oder Angemessenheit der Steuerzuschüsse. Wir fordern aber eine wahrhaftige und auf Fakten basierende Debatte über die Finanzierbarkeit der tragenden Säule unseres Alterssicherungssystems. Denn wenn die Politik alle Probleme der gesetzlichen Rente durch immer höhere Steuerzuschüsse lösen will – was ihr gutes Recht wäre – muss sie auch so auch ehrlich sein und sagen, wo das Geld herkommen soll. Über reines Wirtschaftswachstum wird das nicht finanzierbar sein. Also gibt es drei Lösungen: Staatsverschuldung erhöhen, an anderer Stelle Ausgaben kürzen (nur wo?) oder Steuern erhöhen (aber welche?) bzw. eine Mischung aus allem.

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