Wie kann der Pflegebegriff zukünftig so gestaltet werden, dass neben körperlichen auch geistige und seelische Gebrechen erfasst werden? An dieser Frage bissen sich alle Regierungen der letzten Jahre die Zähne aus. Bisher waren es vor allem demenzkranke Patienten, die durch das Netz der gesetzlichen Pflegeversicherung rutschten und kaum Geldleistungen erhielten - obwohl sie im fortgeschrittenen Stadium auf eine Rundumbetreuung angewiesen sind.

Nun aber steht einer Neudefinition der Pflegebedürftigkeit nichts mehr im Wege. Der Bundesausschuss hat in einer Schlussabstimmung am heutigen Mittwoch den Gesetzentwurf zum zweiten Pflegestärkungsgesetz gebilligt, am Freitag soll er vom Parlament verabschiedet werden. Lediglich die Fraktion Die Linke stimmte dagegen, ihr gehen die Pläne nicht weit genug. Die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen enthielten sich, wie der Deutsche Bundestag auf seiner Webseite berichtet.

5 Pflegegrade ersetzen die bisherigen drei Pflegestufen

Kern des zweiten Pflegestärkungsgesetzes ist die Neufassung der Pflegebedürftigkeit. Die bisherigen drei Pflegestufen werden nun zu fünf Pflegegraden ausgebaut, die genauer und differenzierter erfassen sollen, welche Ansprüche ein Patient hat. Geringe, erhebliche und schwere Beeinträchtigungen werden in die Pflegegrade 1 bis 3 eingestuft, Pflegegrad 4 gilt für schwerste Beeinträchtigungen und bei Grad 5 kommen "besondere Anforderungen an die pflegerische Versorgung" hinzu. Auf welche Leistungen die Patienten voraussichtlich Anrecht haben werden, hat die Bundesregierung bereits im August kommuniziert (siehe Tabelle).

Wie aber bemisst sich zukünftig, welcher Pflegegrad einem Patienten zugesprochen wird? Auch bei der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit will die Bundesregierung Änderungen vornehmen. Ausschlaggebend soll mit Inkrafttreten des Gesetzes nicht mehr sein, wie viel Minuten eine Pflegeleistung, etwa das Ankleiden, in Anspruch nimmt. Sondern in welchem Grad der Patient in der Lage ist, sich noch selbst zu versorgen. Der Grad der Selbstständigkeit wird in sechs verschiedenen Bereichen gemessen und mit unterschiedlicher Gewichtung zu einer Gesamtbewertung zusammengefasst, die dann wiederum den jeweiligen Pflegegrad ergibt:

  1. Mobilität (Ist der Patient in der Lage, Treppen zu steigen? Muss er umgebettet werden? etc.)
  2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten (Orientierung über Ort und Zeit, Selbstständiges Treffen von Entscheidungen im Alltag)
  3. Verhaltensweisen und psychische Verfasstheit (etwa Ängste, Depressionen, Aggressionen)
  4. Selbstversorgung (Kann sich der Patient selbständig waschen? Auf Toilette gehen? Essen und Trinken?)
  5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen (Ist der Patient in der Lage, Medikamente selbständig einzunehmen und Hilfsmittel zu nutzen?)
  6. Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte (Planung des Tagesablaufs, Haushaltsführung)

500.000 neue Anspruchsberechtigte

Durch die Neuregelung werden 500.000 neue Anspruchsberechtigte erwartet. Nicht nur psychisch Kranke werden zukünftig besser erfasst. Auch setzt die Unterstützung deutlich früher an. So werden in Pflegegrad 1 Menschen eingestuft, die noch keinen hohen Unterstützungsbedarf haben, aber z.B. ein Beratungsgespräch in Anspruch nehmen wollen oder eine altersgerechte Dusche brauchen.

Eine gute Nachricht gibt es auch für Menschen, die bereits eine Pflegestufe zugesprochen bekamen. Denn bestehende Pflegeverträge sollen bestehen bleiben und die Betroffenen nicht schlechter gestellt werden. Dies gilt auch dann, wenn sich die Patienten neu begutachten lassen, weil sie auf Verbesserungen hoffen. Solle die Untersuchung ergeben, dass sie eigentlich herabgestuft werden müssten, wird dies nicht umgesetzt.

Weil all dies finanziert werden muss, steigen auch die Pflegeversicherungsbeiträge um 0,2 Prozentpunkte auf 2,55 Prozent (2,8 für Kinderlose) zum Jahresbeginn 2017. Damit sollen 5 Milliarden Euro zusätzlich für Pflegeleistungen bereitstehen.

Opposition bemängelt unzureichende Personalausstattung in Pflege

Den Oppositionsparteien gehen diese Pläne nicht weit genug. Vor allem die Personalausstattung in stationären Einrichtungen sei weiterhin „völlig unzureichend“. Die Bundesärztekammer hatte bereits im Sommer Alarm geschlagen: Seit Mitte der 90er Jahre sei jede zehnte Vollkraftstelle im Pflegebereich abgebaut wurden, bei teils drastisch steigenden Patientenzahlen. Vielerorts würden Personal und Mittel fehlen, um Kranke angemessen zu behandeln. Abgelehnt wurden Anträge der Fraktion Die Linke zur Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung (18/5110) sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für zukunftsfeste Rahmenbedingungen in der Pflege (18/6066).

hib