Die gesetzlichen Krankenkassen erwarten auch für das Jahr 2024 ein Milliardendefizit, auch wenn es im laufenden Jahr deutlich geringer ausfiel als zunächst befürchtet. 17 Milliarden Euro waren für 2023 erwartet worden, doch in den ersten neun Monaten betrug das Defizit „nur“ 967 Millionen Euro, wie aus Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums hervorgeht. Die niedrigere Summe resultiert aber auch daraus, dass die Kassen gezwungen waren, ihr Tafelsilber zu verscherbeln und Rücklagen abzuschmelzen. Die Bevölkerung altert und die Ausgaben steigen seit Jahren stark an: Die Gesundheitsreformen von Karl Lauterbach (SPD) sollen daran nur bedingt etwas ändern.

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Zur finanziellen Situation der Krankenkassen und möglichen Reformen äußert sich nun Ralf Hermes, Vorstand der IKK Innovationskasse, in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“. Die Innungskrankenkasse aus Lübeck gehört mit rund 300.000 Mitgliedern eher zu den kleineren Anbietern. Hermes fordert eine deutliche Reduzierung der Zahl der Krankenkassen - und schmerzhafte Einschnitte zulasten der Kassenpatienten.

“Wir haben zu viele Krankenkassen“

Nach Ansicht von Hermes gibt es in Deutschland zu viele Kassenanbieter. „Ich bekomme einen Riesenärger, wenn ich das sage, aber ja: Wir haben viel zu viele Krankenkassen. Ich weiß nicht genau, was die richtige Zahl wäre, würde jedoch schätzen, dass weniger als die Hälfte dicke reicht“, positioniert sich Hermes. Eine Einheitskrankenkasse lehne er ab.

Die Konsequenz wäre wahrscheinlich auch, dass seine eigene Krankenkasse wegfallen würde, „aber ich bin ja nicht dazu da, meinen Vorstandsposten zu erhalten“, sagt Hermes. Das Argument, weniger Krankenkassen würden den Wettbewerb zwischen den Anbietern gefährden, hält er für wenig plausibel. „Wenn wir im jetzigen System von Wettbewerb sprechen, ist das zu großen Teilen Etikettenschwindel“, sagt er. Rund 95 Prozent der Leistungen, die die gesetzlichen Krankenkassen anbieten, sind vom Gesetzgeber vorgegeben. Aktuell finde Wettbewerb vor allem über Serviceleistungen statt, zum Beispiel über Gesundheits-Apps. Geld ließe sich zum Beispiel auch einsparen, wenn mehr Services digital angeboten werden und dafür die Kassen weniger Service-Center vorhalten müssten.

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Nach Ansicht von Hermes brauchen die Krankenkassen mehr Spielraum. „Wir wollen zum Beispiel unseren Versicherten über eine sogenannte Satzungsleistung weiße Zahnfüllungen aus Kunststoff bezahlen. Das wird wahrscheinlich vom zuständigen Bundesamt für Soziale Sicherung abgelehnt“, berichtet der Betriebswirt. Die Kassen müssten vor allem bei der Prävention mehr anbieten dürfen. „Die heutige Ausrichtung, vorrangig Krankheiten zu bezahlen, ist nicht sehr intelligent und verstärkt die Probleme“, so Hermes. Tatsächlich geben die Krankenkassen nur einen Bruchteil für die Krankheitsvorsorge aus. Von 288,9 Milliarden Euro Gesamtausgaben im Jahr 2022 entfielen nur rund rund 538 Millionen Euro auf private und betriebliche Präventionsangebote, wie aus Daten des GKV-Spitzenverbandes hervorgeht. Das entspricht einem Anteil von 0,19 Prozent.

Präventionsanreize: Kassenpatienten sollen mehr Leistungen selbst zahlen

Wie wenig sich Prävention im Gesundheitssystem finanziell auszahlt, rechnet Hermes an einem Beispiel vor: Für einen Gesunden, der 10.000 Euro im Jahr in den Gesundheitsfonds einzahle, habe die Krankenkasse am Ende dennoch einen negativen Deckungsbeitrag von 200 Euro. Das liege unter anderem am Kopfpauschalensystem, das dazu beitrage, dass sich Prävention und die Ausgaben dafür finanziell nicht lohnten: Selbst für gesunde Mitglieder würden den Kassen Pauschalen in Rechnung gestellt.

Auch wenn Hermes es nicht explizit erwähnt: Andere Kassenfunktionäre wie IKK-Chef Jürgen Hohnl hatten bereits mehrfach kritisiert, dass es sich für die Krankenkassen finanziell nicht lohne, Prävention zu fördern und dafür Geld auszugeben. Im Gegenteil: Die Kassen würden dafür sogar finanziell bestraft, weil für die Behandlung von Volkskrankheiten hohe Pauschalen vorgesehen seien, für Präventionsangebote aber nur geringe Beträge aus dem Gesundheitsfonds.

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Ein Mittel, damit die Bürgerinnen und Bürger mehr auf ihre eigene Gesundheit achten: Sie sollen mehr Leistungen selbst zahlen müssen. Er sei für soziale Marktwirtschaft und wolle auch nicht die Krankenkassen privatisieren, sagt Hermes. Aber es müsse umgesteuert werden. „Die Gesellschaft wird immer älter, irgendwann beginnt der Reparaturbetrieb. Da müssen wir ansetzen und zum Beispiel in Früherkennung von Krankheiten investieren. Wir müssen mit dem Geld auskommen, das wir haben. Die unwirtschaftlichen Seiten des Systems müssen wir angehen, doch Minister Lauterbach hat bis heute kein Finanzierungskonzept vorgelegt, was er vom Gesetz her hätte machen müssen“, sagt er.

Hermes schlägt vor, beispielsweise den Zahnersatz aus dem Leistungskatalog zu streichen. Zahnpflege und Prävention seien unverzichtbar. „In den Niederlanden und Spanien gehört Zahnersatz nicht zum Leistungskatalog. Die Zahngesundheit in diesen Ländern ist nicht schlechter“, so der Gesundheitsökonom. Auf den Einwand, dass im Alter alle Bürgerinnen und Bürger Zahnersatz benötigen und viele damit finanziell überfordert sein werden, schlägt der Vorstand Härtefallregelungen vor.

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