Der verbrauchernahe Bund der Versicherten (BdV) plante für Ende März eine Wissenschaftstagung zum Thema „Faire Vermittlung im Spannungsfeld zwischen Versicherungsunternehmen und Versicherten“. Auf dieser Tagung hätte auch Finanzmathematiker Hermann Weinmann einen Vortrag halten sollen. Wegen Covid-19 freilich wurde daraus nichts – Veranstaltung und Vortrag fielen aus. Jedoch: Die Zeitschrift für Versicherungswesen (ZfV) wollte auf das Renommee des Experten nicht verzichten und brachte nun zwei Artikel in Serie, die mit Positionen des kritischen Wissenschaftlers bekannt machen.

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Leben-Branche: "Wildwuchs" ohne ordnende Hand

Kernthema der Artikelserie ist der Kostenvergleich in der Lebensversicherung. Dieser Vergleich aber wird für den Professor, der an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein forscht und lehrt, zum Problem. Denn aus seiner Sicht ist die Lebensversicherung „pervertiert“ zur "Unvergleichbarkeit der Produktebene".

Weil die Lebensversicherung ein „Wildwuchs der Produkte“ ohne „ordnende Hand“ sei, sind für Weinmann gesetzgeberische Eingriffe geboten. Denn mit der Vergleichbarkeit ging aus Sicht des Professors auch die Fairness gegenüber dem Kunden verloren. Zwei Dinge sollen durch die Regulierung erreicht werden: Kostendisziplin der Lebensversicherer sowie Transparenz.

Einige Versicherer fallen besonders negativ auf

Das Kostenproblem in der Leben-Branche veranschaulicht Weinmann an einem (namentlich nicht genannten) Versicherer, der als „Kostenführer“ in den Beispiel-Rechnungen des Professors erscheint. Dieser Versicherer benötigt von 100 Euro Prämie das Dreifache der Betriebskosten des Marktführers und sogar das Vierfache der erweiterten Betriebskosten dieses Marktführers.

Der Hintergrund: Die erweiterten Betriebskosten bedenken nicht nur Aufwendungen für den Versicherungsbetrieb, sondern auch andere Posten wie Dienstleistungsgeschäfte für Dritte oder Aufwendungen der betrieblichen Altersvorsorge der Unternehmen – auch solche Posten wirken sich auf die Kostenbelastung der Kunden aus (einberechnet zu den Aufwendungen wird das sonstige Ergebnis und das außerordentliche Ergebnis).

Weinmann veranschaulicht die Unterschiede auch anhand der Kostenquoten: Während eine Tabelle für den "Marktführer" eine Betriebskostenquote von 7,0 Prozent und eine erweiterte Betriebskostenquote von 7,1 Prozent ausweist, bringt es der abwertend als "Kostenführer" bezeichnete Versicherer auf eine hohe Betriebskostenquote von 19 Prozent und sogar auf eine erweiterte Betriebskostenquote von sagenhaften 27,8 Prozent. Die Betriebskostenquoten setzen die Kosten ins Verhältnis zu den eingenommenen Beiträgen (brutto).

Einige Lebensversicherer „aasen“

Zwar weist der Professor deutlich darauf hin: Niedrige Kosten allein verbürgen noch keinen Erfolg der Lebensversicherer – nur das erfolgreiche Zusammenspiel von Kosten, Kapitalanlage und Risikogeschäft würde den Erfolg eines Versicherers garantieren. Können doch "konkurrenzlos niedrige Kosten" auch darauf hindeuten, dass ein Versicherer sich verkalkuliert, um die Konkurrenz auszustechen. Und doch – überdurchschnittlich hohe Kostenbelastungen wie jene des „Kostenführers“ müssen laut Weinmann äußerst kritisch gesehen werden.

Der Professor wählt sogar drastische Worte für Lebensversicherer, die überdurchschnittlich hohe Abschlusskosten haben. Denn diese Versicherer würden „aasen“ – ein vom "Aas" abgeleiteter Begriff, der bildlich für besonders verschwenderisches Verhalten steht.

Abschlusskosten als „Kostenfresser“: Keineswegs nur Provisionsproblem

Doch keineswegs sieht Weinmann hohe Kosten nur bei den Kostenführern – sie gelten ihm eher als generelles Problem. Insgesamt machen Abschlusskosten nach Analyse des Professors einen hohen Anteil an den Betriebskosten in der Branche aus – sie sind aus Sicht des Professors „Kostenfresser“.

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Wichtig ist Weinmann aber hierbei: Es handelt sich um ein Kosten- und keineswegs nur um ein Provisionsproblem. Denn die Anteile der Provisionen an den Abschlusskosten würden sich, je nach Versicherer, deutlich unterscheiden.

Das Transparenz-Problem: „Verschönerungsquoten“, „Black Box“ und „Versteckspiel“

Freilich: Bei den Kosten der Lebensversicherer tappen selbst Wissenschaftler mitunter im Dunklen. Denn zum Kosten- kommt ein Transparenzproblem hinzu:

  • So seien Kennzahlen wie die Verwaltungskostenquote „Verschönerungsquoten“, weil sie nur Aufwendungen für die Verwaltung von Versicherungsverträgen umfassen würden. Jedoch: In der Lebensversicherung ginge es „um viel mehr“. Kostenbestandteile fallen laut Weinmann durch derartige Quoten „unter den Tisch“.
  • Auch bliebe die tatsächliche Kostenbelastung der Versicherten häufig durch Posten wie das übrige Ergebnis (auszuweisen gemäß Paragraph 4 der Verordnung über die Mindestbeitragsrückerstattung) verborgen. Dürfen doch die Unternehmen hier kalkulationsbedingte Kostenergebnisse mit nicht der Kalkulation unterworfenen Kosten mischen. Zudem sind für das übrige Ergebnis keine Zahlen für den Verlust auszuweisen – der bloße Terminus „Verlust“ ermögliche den Versicherern eine Black Box. Das übrige Ergebnis lasse folglich nicht auf das wirkliche Kostenergebnis schließen.

Geschäftsberichte zeigen nicht alles

Weitere Transparenzprobleme veranschaulicht Weinmann an einer Begebenheit: Nur aufgrund einer kleinen Anfrage der Grünen kam heraus, dass ein Lebensversicherer in 2017 die Zuführung zur Rückstellung der Beitragsrückerstattung (RfB) – und damit das Polster der Versicherten zur Abfederung von Beitragssteigerungen – um sagenhafte 144,3 Millionen Euro von 145,2 Millionen Euro auf 0,9 Millionen Euro reduzierte. Diese Tatsache aber war weder im Druck- und Geschäftsbericht des Unternehmens noch im Solvabilitäts- und Finanzbericht (SFCR) angegeben.

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Erst Drucksache 19/5769 des Bundestages war notwendig, um überhaupt eine derart hohe Reduzierung der Mindestzuführung ans Tageslicht zu bringen. Obwohl Weinmann selbst den Versicherer nicht nennt, zeigt ein Blick in das Papier: die Debeka Lebensversicherungsverein a.G. ist durch den Wissenschaftler gemeint. Ohne die Anfrage der Grünen wäre bis heute nichts über deren Reduzierung der Mindestzuführung bekannt gemacht.

Der Vorwurf: Ein gezieltes Umgehen der Vergleichbarkeit

Verschiedene Transparenzprobleme fasst Weinmann nun zusammen unter dem Begriff des „Versteckspiels“: Die Unternehmen und Aktuare hätten viel Spielraum in der Kostenfrage und würden dies auch ausnutzen. So sei das Bestreben vieler Aktuare „darauf gerichtet, die Kostenbelastungen kreativ zu gestalten, um der Vergleichbarkeit zu entgehen, aber auch um bestimmte Belastungen bzw. Zahlungen zu ermöglichen“. Dies veranschaulicht Weinmann unter anderem an doppelten Vertriebs- und Abschlusskosten, mit denen Riester-Anbieter zuletzt negative Schlagzeilen machten bei der Anpassung der Verträge an die Kinderzulage.

Politische Deregulierung als Ursache des „Wildwuchses“

Was aber sind die Gründe der Missstände? Weinmanns Artikelserie zielt in mehrere Richtungen. So ist ein Vorwurf an die Politik nicht zu überhören, wenn Weinmann für eines seiner Fazits formuliert: Die Unvergleichbarkeit der Produktebene sei "eine Folge der Deregulierung".

Im Jahr 1994 hätte die Deregulierung zunächst "zögerlich" eingesetzt. Dann aber wäre sie "mit Vehemenz" pervertiert. In diesem Kontext übt Weinmann auch Kritik an der Aufhebung der Promillegrenze, die zwischen 1995 und 2008 galt – damals waren Abschluss- und sonstige Provisionen auf maximal 40 Promille begrenzt aufgrund des Rundschreibens VerBAV 5/95 des ehemaligen Bundesaufsichtsamts für das Versicherungswesen (BAV).

In 2008 aber wurde dieser alte „Provisionsdeckel“ fallengelassen unter der Begründung, dass „eine höhere Transparenz und Vergleichbarkeit der vielfältigen Produkte untereinander gewährleistet wird.“ Aus Sicht Weinmanns erscheint eine solche Begründung „im Nachhinein blauäugig“.

Niedrigzins verschlechtert Partizipation der Versicherten

Freilich: Erschwerend kommt das Niedrigzinsumfeld hinzu. Schon die Mindestzuführungsverordnung von 2008 hätte laut Weinmann eine „Verschlechterung der Partizipation der Versicherten am Rohüberschuss“ bewirkt. Dies wurde nochmals verschärft durch durch die Niedrigzins- und Negativzinsphase.

Denn damit Altgarantien weiterhin bedient werden können, erhöhte der Gesetzgeber die Eigenkapitalerfordernisse – man denke nur an die Einführung obligatorischer Sicherheitspuffer wie der Zinszusatzreserve in 2011.

Was aber unter diesen erschwerten Bedingungen der Branche durch fehlende Verbraucherorientierung auf der Strecke blieb, ist laut Weinmann die „Vergleichbarkeit und Fairness“. Zur Fairness gegenüber dem Versicherungsnehmer zählt der Professor auch eine „strikte Kostendisziplin“. Zumal ihm die Branche als „Hochlohnbranche“ gilt – nur Kostendisziplin würde in einer solchen Branche die Fortentwicklung sichern.

"Regulatorische Folgerungen": Die Vorschläge an den Gesetzgeber

Solche Beobachtungen führten Weinmann zu mehreren „regulatorischen Folgerungen“:

  • So müssten Kostenergebnisse für die Feststellung der "wahren" Betriebskosten offengelegt werden. Weinmann fordert unter anderem eine damit einhergehende "Neuordnung der Ergebnisquelle übriges Ergebnis".
  • Auch müsse der "kalkulatorischen Willkür" im Bereich der Abschlusskosten Einhalt geboten werden. Die Forderung bezieht sich auf Möglichkeiten wie das Einfordern doppelter Abschlusskosten – ein zu großer Spielraum führt hier zu Willkür gegenüber dem Kunden.

Deckelung der Abschlusskosten auch für Biometrieprodukte

Nach jetzigem Stand sind für Weinmann auch die Abschlusskosten in der Lebensversicherung durch den Gesetzgeber zu begrenzen. Konkret empfiehlt der Wissenschaftler Folgendes:

  • Die Abschlusskosten sollen derart begrenzt werden, dass kein Spielraum für die Unternehmen möglich ist. Hinfällig wäre damit auch jene Möglichkeit des aktuellen Gesetzentwurfs mit Stand vom 18.04.2019, bei Erfüllung bestimmter Qualitätskriterien eine höhere Provision zu zahlen. Allerdings dürfe die Begrenzung der Abschlusskosten auch nicht für die Unternehmen "wirtschaftlich strangulierend“ sein.
  • Freilich: Die Vorschläge von Weinmann betreffen Abschlusskosten und nicht nur Provisionen. Denn der Wissenschaftler führt ja aus, dass sich selbst bei hohen Abschlusskosten verschiedener Versicherer der Anteil der Provisionen daran unterscheidet. Statt von einem "Provisionsdeckel" könnte man deswegen – mit Blick auf die Vorschläge – eher von einem "Abschlusskostendeckel" sprechen.
  • Eine strikte Begrenzung der Abschlusskosten solle sogar auf Biometrieprodukte ausgedehnt werden. Das begründet der Professor mit einem Auseinanderdriften von Bruttobeitrag und Zahlbeitrag aufgrund des Wettbewerbs: Von Anfang an würde bei Biometrieprodukten eine hohe Überschussbeteiligung erfolgen. Jedoch führt dies aus Sicht Weinmanns zu einem Beitragssteigerungsrisiko des Kunden, während der Vermittler entlohnt würde, als hätte sich das Beitragsrisiko bereits im vollen Umfang realisiert.

Die Alternative: Streichung des Provisionsabgabeverbots

Würde aber keine Begrenzung der Kosten erfolgen, dann fordert Weinmann eine Streichung des Sondervergütungs- und Provisionsabgabeverbots aus Paragraph 48b des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG). Verbrauchernahe Akteure wie der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) fordern schon länger diese Abschaffung des Verbots, Provisionen an die Kunden auszukehren. Sie erhoffen sich davon, dass dem Vertriebswettbewerb um Provisionshöhen die Grundlage entzogen wird und sich ein Nettopreissystem durchsetzt (siehe Stellungnahme der Verbraucherzentrale vom 12. Dezember 2016 zum Vertrieb von Versicherungen).

Hintergrund: Die Artikel mit Weinmanns kritischen Analysen sind erschienen in den Ausgaben 08/20 und 09/20 der Zeitschrift für das Versicherungswesen (ZfV).

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