Versicherungsbote: Wo steht Deutschland beim Thema Altersvorsorge und Pflege?

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Mit der Reform der Altersvorsorge in 2001 hat sich Deutschland klare Ziele gesetzt. Aktuell liegt die private Altersvorsorge aber noch hinter diesen Ambitionen. Weniger als zehn Prozent der Renteneinkommen kommen heute aus der privaten Altersvorsorge. Die bAV hat in den vergangenen Jahren insbesondere aus Sicht der Versicherungen gute Erfolge erzielen können – in beiden Formen ist aber noch Luft nach oben, wie auch die aktuellen Reformvorschläge aus dem Bundesministerium für Wirtschaft aufzeigen.

Auch bei der Pflegeversicherung gibt es mit ca. neun Millionen Pflegeversicherten eine Lücke zwischen den Wünschen der Versicherten und der gesetzlichen Deckung. Dazu leben immer mehr Menschen in nicht klassischen Familienverhältnissen, in dem Partner oder Kinder vor Ort die Pflege leisten können. Diese Abnahme an häuslicher Pflege durch Angehörige muss mit Fachkräften ausgeglichen werden, die leider fehlen. Die Kernfrage ist inwieweit die Pflege im Bedarfsfall verfügbar und zugänglich ist.

Johannes Neumeyer ist Senior Manager bei Accenture im Bereich Strategy & Consulting Insurance und Leiter der Gruppe Digital Health.Ist Elderly Care bereits im Versicherungsmarkt angekommen? Wie stehen die Versicherungskunden zu diesem Thema?

Wir verstehen Elderly Care als einen weiter gefassten Begriff für die „Pflege“. Der Bedarf entsteht viel früher rund um die Themen Mobilität, Wohnen und Gesundheit. Meist haben alle drei Faktoren auch einen hohen Einfluss auf soziale Teilhabe. Hier sehen wir noch Nachholbedarf, Angebote umfassender zu gestalten und damit auch Kunden ganz anders anzusprechen. Wir unterscheiden zudem zwischen Pflegenden (Care-Giver) und Pflegebedürftigen (Care-Taker). Heute sind die Angebote sehr stark auf Geldleistungen für Care-Taker ausgerichtet. Die Care-Giver, welche die Last der Pflege oft alleine tragen, stehen noch nicht im Fokus.

Das Interesse der Versicherungskunden für Pflegeprodukte ist dementsprechend auch nur gering. Das typische Muster verhält sich wie folgt: lange wird der Bedarf nicht gesehen, später verdrängen viele das Thema Alter und Pflege, und schließlich kommt es zu einer Überforderung, diese selbstständig zu leisten bzw. diese zu organisieren. In einer aktuellen Studie hat Accenture Personen zwischen 18 und 45 Jahren befragt, welche Leistungen ihnen wichtig sind. 89 Prozent der Befragten haben Geldleistungen angegeben. Das Interesse für zusätzliche Services wie z.B. die Organisation von häuslichen Dienstleistungen ist mit 65 Prozent der Befragten hoch, liegt aber spürbar hinter der Präferenz für monetären Leistungen.

Haben die Versicherungen die älteren Menschen bereits ausreichend auf dem Schirm?

Versicherungen haben ein breites Produktangebot für Altersvorsorge und Pflege – die tägliche Organisation und Begleitung des Lebensalltags ist schwächer besetzt. Zwischen der Auszahlung von Geldleistungen und der echten täglichen Unterstützung und Begleitung von älteren Menschen besteht ein großer Unterschied. Hier liegt auch eine wesentliche Herausforderung. Denn die Zielgruppe für den Abschluss von Produkten unterscheidet sich durch den Zeitverzug gänzlich von den Leistungsempfängern. Neben den Bedürfnissen der älteren Menschen sollten zudem die Bedürfnisse der pflegenden Angehörigen wie Lebenspartner oder Kinder eine Rolle spielen und spezifische Angebote auf sie ausgerichtet werden.

Warum wird für Versicherungen notwendig „Altersvorsorge“ neu zu denken und mit welchen Konzepten/Produkten können die Assekuranzen punkten und ihren Kunden echte Mehrwerte bieten?

Neben den monetären Aspekten wird die tatsächliche Versorgung an Bedeutung gewinnen. Insbesondere im ländlichen Raum wird es für ältere Menschen zunehmend herausfordernd, (medizinische) Betreuung, Mobilität und soziale Kontakte zur organisieren. Ihre Kinder leben oftmals nicht in der Nähe und die Anbieterlandschaft ist wenig digital und fragmentiert. Klassische Assistance-Leistungen über das gesetzlich gegebene Niveau hinaus schaffen in diesen Situationen nicht nur einen signifikanten Mehrwert für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen, sondern bieten für die Versicherungen auch die Chance ihr Angebot zu differenzieren. Insbesondere Informations-, Beratungs- und Organisationsleistungen können ein mögliches Feld sein. Diese sind gesetzlich oftmals verfügbar, im „Notfall“ aber nicht leicht verständlich und zugänglich. Persönliche, umfassende und empathische Leistungen können hier den Unterschied machen.

Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben im Alter ist groß: Welche neuen Möglichkeiten der Kundenbetreuung ergeben sich hier für Versicherungen?

Der Wunsch nach einem selbstbestimmten und unabhängigen Leben im Alter ist laut der Befragten mit Abstand der wichtigste Aspekt und stark mit dem Thema Wohnen verbunden. Die meisten Menschen wünschen sich, ihr Leben im gewohnten sozialen und räumlichen Umfeld fortzuführen. Daraus folgen in unseren Befragungsergebnissen die Felder Pflege, Alltagsunterstützung, Mobilität und Wohnen im Eigenheim. Dabei sind für Männer die Themen Pflege und Mobilität wichtiger als für Frauen. Diese priorisieren Alltagsunterstützung und Wohnen im Eigenheim. Versicherungen sollten auf diese Bedürfnisse mit entsprechenden Angeboten reagieren und über die Rolle als reiner Kostenerstatter oder finanzieller Partner hinaus gehen.

Wie können Versicherungen es schaffen, sich als vertrauensvolle Ansprechpartner für ganzheitliche Pflege und Altersvorsorge erfolgreich am Markt zu platzieren?

Beim Thema Altersvorsorge genießen Versicherungen heute schon ein großes Vertrauen der Kunden. Jetzt ist es wichtig, dieses Bild auch als kompetenter Serviceananbieter auszuweiten. Kundenservice ist heute noch nicht unbedingt die stärkste Kompetenz von Versicherungen, insbesondere im Vergleich zu führenden Serviceanbietern aus Bereichen wie dem Onlinehandel, die die Erwartungen der Kunden prägen. Aus der Befragung geht hervor, dass die Menschen insbesondere eine gute und schnelle Erreichbarkeit (67 Prozent), hohe fachliche und soziale Kompetenz (59 Prozent) und persönlichen Kontakt vor Ort (47 Prozent) schätzen.

Wie lassen sich empathische, kompetente und integrierte, digitale Kundenreisen im Bereich Pflege und Altersversicherung gestalten?

Kunden bevorzugen meist eine Mischung aus digitalen und vor-Ort-Angeboten. Rein digitale oder reine vor-Ort-Angebote stoßen auf wenig Interesse. Das ist eine Chance für Versicherungen, die durch ihre Vertriebsstrukturen auch eine hohe lokale Präsenz haben und die lokalen Gegebenheiten kennen – ein wichtiges Differenzierungsmerkmal gegenüber neuen Anbieter aus dem Digitalbereich.

Zudem ermöglichen Ökosysteme den Versicherungen, ihre Angebote mit bestehenden Services zu kombinieren. Versicherungen können die gewünschten Services mit Partnern sehr viel breiter anbieten. Dabei könnten die Versicherer als zentraler Ansprechpartner gegenüber dem Kunden agieren – und die Services mit entsprechend geschulten Mitarbeitenden koordiniert, kompetent und empathisch anbieten.

Welche Technologien helfen Versicherungen dabei, das Thema „Elderly Care“ voranzutreiben? Sind entsprechende Kompetenzen und Mitarbeiter bereits an Bord?

Ob Elderly Care ein primär technologiegetriebenes Thema ist, bleibt abzuwarten. Wir gehen in erster Linie davon aus, dass vor allem der Bedarf an Services vor Ort den Druck erhöhen wird. Diesen Bedarf geschickt mit Technologie zu decken, ist eine große Herausforderung. Dafür brauchen Versicherungen weitere Kompetenzen, die digitale Technologie und die Konzeption von kundenzentrischen Angeboten kombinieren. Beide Kompetenzen sind heute grundsätzlich in den meisten Versicherungen in den IT- und Digitaleinheiten oder im Case Management bereits vorhanden, allerdings noch nicht in einem ausreichenden Umfang. Daher ist es vor allem eine Skalierungsaufgabe. Ergänzungen werden sicher im Bereich Partnermanagement notwendig, sofern Versicherungen Ökosysteme nutzen, um ihr Angebot mit anderen Anbietern zu kombinieren. Bislang stand das nicht im Fokus von Versicherungen und wurde – wenn überhaupt – in der Krankenversicherung rund um das Case Management genutzt. Solch ein Angebot im Bereich Altersvorsorge aufzubauen und die Qualität über aller Partner zu steuern, ist eine komplexe Aufgabe.

Weitere neue digitale Technologien rund um Smart Home oder künstliche Intelligenz zur Auswertug von Vitaldaten werden benötigt, sind aber nicht die wichtigsten Bausteine für die neue Art der Elderly Care-Angebote.

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