Die Welt hat sich in den vergangenen Jahren massiv verändert. Organisationen müssen in einer sehr viel unbeständigeren, unsichereren, komplexeren und mehrdeutigen Welt funktionieren. Umfragen und das Marktgeschehen zeigen, dass die Versicherungsbranche teilweise erkannt hat, dass sie Herausforderungen von morgen nicht mit den Strukturen von gestern bewältigen kann. So wird sich in vielen Häusern unserer Branche damit auseinandergesetzt, welche organisatorischen Ansätze, Paradigmen und Modelle die richtigen sind, um zukünftig im Wettbewerb bestehen zu können.

Anzeige

Beispielsweise findet man Kundenzentrierung in nahezu jeder Unternehmensstrategie. Das Aufbrechen des über Jahrzehnte konditionierten Silodenkens durch crossfunktionale, interdisziplinäre Zusammenarbeit wird genauso gefördert wie der Austausch in bereichs- oder sogar unternehmensübergreifenden Netzwerken. Bei einem detaillierten Blick entdecken wir das Bemühen, die Mitarbeitenden hinsichtlich der Selbstorganisation und Eigenverantwortung zu stärken und zu befähigen. Dies sind nur einige der mannigfaltigen Stellhebel, die es zu beachten und zu bedienen gilt.

Neue Modelle passen nicht eins zu eins auf das eigene Unternehmen

Ausgehend davon ist nun die Frage, wie man eine Organisation im laufenden Betrieb umbaut, ohne dass es zu Ausfällen oder größeren Problemen kommt. Als Sinnbild für diesen Prozess können wir uns ein Fahrzeug vorstellen, welches das klare Ziel hat, in einer gewissen Zeit von A nach B zu kommen. Nun soll es umgebaut werden – während der Fahrt. Und dann stellen wir uns vor, dass ein Reifen gewechselt werden soll oder das Lenkrad ausgetauscht werden muss. Klingt ganz schön kompliziert, oder? Dieses einfache Beispiel macht nachvollziehbar, warum es durchaus Zurückhaltung bei der Transformation einer Organisation gibt. Dabei gibt es viele Modelle, die in Betracht gezogen werden könnten. Soziokratische, integrale und nicht zuletzt agile Strömungen bringen viele spannende und nützliche Ansätze mit. Leider wird die Organisationsentwicklung darin nur in den seltensten Fällen ein Modell finden, welches eins zu eins auf das eigene Unternehmen übertragen werden kann. Dogmatismus scheint hier der denkbar schlechteste Berater zu sein. Gleichwohl können derartige Modelle als Ausgangspunkt und Orientierung für die eigene Transformation dienen. So bedienen sich immer mehr Finanzdienstleistungsunternehmen dieser verschiedenen Rahmenwerke, um die eigene Organisation fit für die Anforderungen von heute und morgen zu machen.

Anzeige

Spotify-Modell bei Signal Iduna und SAFe bei Baloise und HDI

Beispiele dafür gibt es viele: Der vergleichsweise junge Technologie- und Finanzplattformkonzern Hypoport verfolgt in einzelnen Gruppenunternehmen einen holakratischen Ansatz. Die Großbank ING und der Versicherer Signal Iduna haben beide innerhalb von 18 Monaten das gesamte Unternehmen entlang des Spotify-Modells transformiert. Versicherungsgruppen wie Baloise und HDI nutzen das Skalierungsframework SAFe (Scaled Agile Framework), um agile Praktiken und Lean-Prinzipien überall dort zu etablieren, wo sie Sinn machen. Die Praxis zeigt, dass die eine Herausforderung die Umsetzung derartiger Ansätze ist. Die viel größere Hürde ist jedoch das Verstätigen dieser, das nachhaltige Etablieren neuer Strukturen und Entscheidungswege sowie die Weiterentwicklung der Unternehmenskultur.

Veränderungsprozess in kleineren Einheiten beginnen

Organisationale Ambidextrie kann in diesem Kontext eine Fähigkeit sein, die Exploration (Erkundung) neuer Organisationsparadigmen bei gleichzeitiger Exploitation (Ausnutzung) bestehender Strukturen und Prozesse ermöglicht. Sollte es einem Unternehmen also möglich sein, einzelne Organisationseinheiten oder sogar Gesellschaften zu transformieren, kann hier im Kleinen aus dem Veränderungsprozess gelernt und positive Effekte auf die Stammorganisation übertragen werden.

Orientierung bieten ein klares Zielbild, wohin sich das Unternehmen bewegen soll sowie das Bewusstsein und die ehrliche Reflektion der Ausgangslage als Startpunkt. Viele Unternehmen folgen traditionellen Mustern wie starren Hierarchien, funktionsorientierten Abteilungen, einer klaren Top-down-Führung und zeigen eine geringe Fehlertoleranz. Um sich einem moderneren Organisationsmodell anzunähern, könnte der Fokus zunächst auf der Einführung und Etablierung agiler Projektorganisation liegen. Es ist auch sinnvoll, die Verantwortung für die Organisationsentwicklung als eigene Rolle, eigenes Team oder eigener Bereich im Unternehmen zu etablieren, ausgestattet mit einem entsprechenden Mandat.

Anzeige

In Unternehmen, in denen die organisatorische Evolution weiter fortgeschritten ist, findet man oft flachere Hierarchien und erste selbstorganisierte Teams. Agile und Lean-Methoden haben bereits in verschiedenen Abteilungen Anwendung gefunden. Zudem werden eine offene Kommunikation und transparente Entscheidungsfindung zumindest in ersten Ansätzen gelebt. In solch fortgeschrittenen Organisationen sind die Erfolgsaussichten für die Transformation von Pilotgruppen oder einzelnen Gesellschaften eines Konzerns, im Sinne der organisatorischen Ambidextrie, deutlich größer.

Die organisatorische Veränderung als „Big Bang“ sollten nur Unternehmen wagen, die schon eine hohe Reife bezüglich des organisatorischen Rahmens aufweisen können. Auch hier wird die modell-romantische Organisationsentwicklung auf eine unternehmens-wirtschaftliche Realität treffen: Wenn bspw. festgestellt wird, dass es weiterhin Kompetenzen wie Marktforschung, IT oder Aktuariat gibt, die nicht als volle Kapazität in jedes einzelne crossfunktionale Team gesteckt werden können. Aber auch in solchen Fällen werden, mit Blick auf ein gemeinsames Ziel, tragfähige Lösungen und Kompromisse gefunden werden.

Strategie als stabilisierender Rahmen

Rückblickend auf unsere Fahrzeug-Metapher bedeutet dies, dass ein notwendiger Umbau des Fahrzeuges auf der Reise von A nach B durchaus möglich ist. Voraussetzung ist, dass das Auto beispielsweise von einem Zug, Lkw oder sonstigen rahmengebenden Transportmittel gestützt wird. Dabei muss den Fahrzeugführenden klar sein, dass die Reise in dieser Zeit nicht in gewohnter Geschwindigkeit erfolgen kann. In der Praxis ist dieser stabilisierende Rahmen für die organisatorische Transformation das bereits genannte Zielbild. Das beinhaltet eine klare Vision, Werte und eine Unternehmenskultur, die entsprechend der gewählten Organisationsansätze integrativer und fehlertoleranter ist.

Dazu gehört, dass Führungskräfte sich weniger auf disziplinarische Führung, Delegation und Überwachung fokussieren. Vielmehr stehen Orientierung, Unterstützung und Befähigung im Mittelpunkt und prägen damit das Mindset und die Kultur des gesamten Unternehmens. Zu diesem Rahmen gehören aber auch die hybriden Arbeitswelten und neuen Formen der Zusammenarbeit, um den Transformationsprozess bestmöglich zu begleiten.

Intrinsische Motivation der Mitarbeitenden ist entscheidender Erfolgsfaktor

Veränderungsprozesse im Unternehmen erfordern eine hohe Belastbarkeit der Mitarbeitenden. Die Belastbarkeit korreliert verständlicherweise mit der Motivation aller, diese Veränderung erfolgreich (mit) zu gestalten. Verschiedene, mittlerweile auch belegte, Theorien zeigen, dass insbesondere die intrinsische Motivation der Mitarbeitenden im direkten Zusammenhang mit dem Grad der Selbstbestimmung steht. Motivation wird idealerweise nicht durch Angst vor Sanktionen oder durch die Erwartung von Belohnung erzeugt. Denken wir an ehrenamtliche Tätigkeiten, Helfen in der Gemeinschaft oder riskante Hobbys. Diese ziehen zumindest keine direkte Belohnung nach sich. Externe Anreize können durch den sogenannten Korrumpierungseffekt hier sogar die intrinsische Motivation verringern. Das bedeutet, dass die Erzeugung intrinsischer Motivation ein entscheidender Erfolgsfaktor für jeden Transformationsprozess ist.
Wir wissen, dass die Komplexität, in der wir und unsere Unternehmen agieren, weiter steigen wird. Daher ist eine Veränderung der Organisation keine Option, sondern ein unvermeidlicher Zug.

Über den Autor:
Robert Rieckhoff, Leiter Team Prozesse, Organisationsentwicklung & neue Geschäftsmodelle Versicherungsforen Leipzig

Anzeige

Mehr Informationen zu Organisationsmodellen von gestern, heute und von morgen sowie Use Cases aus der Versicherungswirtschaft gibt es in einem aktuellen Whitepaper der Versicherungsforen Leipzig und Digital Impact Labs Leipzig. Zum kostenfreien Download.

Seite 1/2/

Anzeige