Warum soll man als Beitragszahler viele Jahre hohe Beiträge in die Rentenkasse einzahlen, wenn die Rente am Ende kaum mehr einbringt als das Existenzminimum? Diese Frage könnten sich künftig immer mehr deutsche Bürger stellen, warnt aktuell das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. Denn ein Durchschnittsverdiener muss in Deutschland immer länger in die Rentenkasse einzahlen, um im Alter mehr zu haben als das absolute Existenzminimum.

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Demnach musste ein Durchschnittsverdiener im Jahr 2018 bereits 27,4 Jahre in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen, um später eine Rente in Höhe der Grundsicherung zu erhalten. Im Jahr 2000 waren es noch 23,2 Jahre: mehr als vier Jahre weniger. Das zeigt eine aktuelle Studie des DIW, die im Wochenbericht 06/2020 publiziert wurde.

Wie hoch die Durchschnittsverdienste der Jahre waren, nennt die Studie nicht. Zur Orientierung: Sie betrugen 2018 laut Statistischem Bundesamt rund 3.770 Euro brutto im Monat. Viele Menschen verdienen deutlich weniger.

DIW Berlin

Explodierende Mieten haben großen Einfluss

Als Ursache, weshalb sich die sogenannte Mindestbeitragszeit erhöht hat, nennt Mitautor Johannes Geyer die unterschiedliche Entwicklung bei Renten und Grundsicherung. „Bei der Rente hat man Anfang der 2000er Reformen eingeführt, die das sogenannte Rentenniveau gesenkt beziehungsweise die Rentensteigerungen gedämpft haben. Beim Regelsatz der Grundsicherung war es anders. Der ist, je nachdem wie das Existenzminimum gewachsen ist, gestiegen. Insbesondere die Unterkunftskosten haben in den vergangenen Jahren mitunter stark zugenommen“, so der Sozialwissenschaftler.

Der Bruttobedarf der Grundsicherung setzt sich in der Studie aus dem Regelsatz und den Wohnkosten zusammen. Entsprechend haben die steigenden Mieten in den Großstädten und Ballungszentren einen großen Einfluss auf die Mindestbeitragszeit zur gesetzlichen Rente. Dort, wo die Wohnkosten schon hoch sind und noch weiter zulegen, wird die Mindestbeitragszeit zur Vermeidung von Grundsicherung im Alter wohl stärker steigen als andernorts.

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„Besonders in großen Städten lebende Menschen mit unterdurchschnittlichen Gehältern müssen länger in die Rentenversicherung einzahlen, um später mehr rauszubekommen als eine Rente auf Grundsicherungsniveau“, sagt Geyer, der stellvertretender Leiter der Abteilung Staat am DIW ist. „Wenn die Politik nicht sicherstellt, dass Menschen, die viele Jahre erwerbstätig waren und Beiträge geleistet haben, eine Rente deutlich über dem Existenzminimum erhalten, könnte die Rentenversicherung ein Legitimationsproblem bekommen.“

Reformvorschläge: mehr Rentenpunkte für Geringverdiener

Die Experten haben auch die Entwicklung der Rente für die nächsten 25 Jahre vorausberechnet. Demnach sorgt die doppelte Haltelinie der Bundesregierung zunächst dafür, dass die Mindestbeitragszeit zunächst bis 2025 um knapp ein Jahr fallen wird: Ein Durchschnittsverdiener also kürzer in die Rentenkasse einzahlen muss, um das Grundsicherungs-Niveau zu erreichen. Die Haltelinie garantiert, dass das Rentenniveau bis Mitte dieses Jahrzehnts nicht unter 48 Prozent fällt.

Mit dem Wegfall der Haltelinie wird der Rentenwert ab 2025 unter den getroffenen Annahmen aber langsamer steigen als der Grundsicherungsbedarf. Das liegt auch an den dann zunehmenden Renteneintritten der sogenannten Babyboomer-Jahrgänge: Die steigende Zahl der RentnerInnen und die sinkende Zahl der BeitragszahlerInnen dämpft den Anstieg des Rentenwerts. Folglich steigt die Mindestbeitragszeit bis 2038 auf mehr als 38 Jahre, prognostizieren die DIW-Experten. Aufgrund der Coronakrise seien die Prognosen aber unsicherer als ohnehin schon.

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Geringverdiener besonders betroffen

Die Werte für Durchschnittsverdiener verdecken, dass Menschen mit weniger Verdienst viel länger einzahlen müssen, um mit ihren Rentenansprüchen wenigstens das Existenzminimum zu toppen. Gerade Geringverdiener könnten sich deshalb immer öfters die Frage stellen, warum sie überhaupt noch in die Rentenkasse einzahlen sollen.

"Wenn man das verhindern will, führt eigentlich kein Weg daran vorbei, in der Rentenversicherung Maßnahmen einzuführen, die helfen, dass Geringverdienende auf die notwendigen Entgeltpunkte kommen, beispielsweise indem sie mehr Rentenpunkte erreichen als Gutverdienende. Das wäre eine Art Progression in der Rentenformel", sagt Johannes Geyer.

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Ein weiterer Reformvorschlag wäre die Einführung von Freibeträgen in der Grundsicherung. "Damit würde man sicherstellen, dass alle, die in die Rentenversicherung eingezahlt haben, mit der Grundsicherung und dem Freibetrag ein höheres Alterseinkommen haben als Menschen, die nicht eingezahlt haben", so Geyer.

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