Versicherungsbote: Herr Dr. Reitzler, das Pflegestärkungsgesetz II ist im Januar 2017 in Kraft getreten. Wie sieht Ihr Fazit bis jetzt aus?

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Rainer Reitzler: Im Sinne des Gesetzes ist die Zahl der Pflegebedürftigen gestiegen, da mithilfe der neuen fünf Pflegegrade und des neuen Begutachtungsverfahrens die individuelle Pflegebedürftigkeit jetzt viel genauer in den neuen Graden abgebildet werden kann. Mehrere Hunderttausend Menschen erhalten nach der Pflegereform jetzt Zugang zu Pflegeleistungen, denen diese bisher nicht zustanden. Erwartungsgemäß sind daher auch die Ausgaben für die Pflegeleistungen gestiegen. In der Breite gibt es mehr Geld, der Einzelne muss sich aber nach wie vor auf zusätzliche Belastungen einstellen, daran hat die Pflegereform nichts geändert. Die sehr generösen Übergangsregeln für bereits Pflegebedürftige haben den Blick ein wenig verstellt auf die, die erstmals als pflegebedürftig eingestuft wurden. Und es gibt auch nach der Reform durchaus Verlierer: Längst nicht jeder Demenzkranke erhält deutlich mehr Leistungen, und Krebspatienten kommen in dem neuen Gesetz bei den laufenden Leistungen schlecht weg. Darüber hinaus ist der mit dem Gesetz zeitgleich eingeführte einrichtungseinheitliche Eigenanteil zwar eine gut gemeinte Idee gewesen, aber er hat bislang vor allem für steigende Kosten in den Heimen und in der Folge für Unruhe und Ängste gesorgt. Zudem hat er zu einer noch stärkeren Polarisierung zwischen ambulant und stationär geführt, mit allen Konsequenzen im Hinblick auf die Versorgungssituation und die Produkte zur Absicherung der Versorgungslücken.

Dr. Rainer Reitzler, Vorsitzender des Vorstands der Münchener Verein Versicherungsgruppe(c) Münchener Verein Versicherungsgruppe

Die neue Bundesregierung will mit ihrem „Sofortprogramm Pflege“ und mit ihrer „Konzertierten Aktion Pflege“ die pflegerische Versorgung weiter stärken und ausbauen. Sind die geplanten Maßnahmen Ihrer Meinung nach ausreichend?

Grundsätzlich befürworte ich jede Initiative und Maßnahme auf politischer Ebene, die zu einer spürbaren Verbesserung für die derzeit mehr als drei Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland führen. Bei genauer Betrachtung jedoch sind die bereits eingeleiteten Schritte bei Weitem nicht ausreichend. 8.000 zusätzliche Fachkraftstellen für die medizinische Behandlungspflege klingen gut, die Branche spricht aber von rund 100.000 unbesetzten Stellen, die notwendig wären.

Woher sollte neues Personal aber auch kommen? Ein Dilemma ist, dass die Träger von Pflegeheimen ihren Beschäftigten höhere (Tarif-)Löhne zahlen sollen. Das erhöht einerseits die Wertschätzung des Berufs, hat aber andererseits zur Folge, dass die Kosten für Pflegeheimbewohner an zahlreichen Orten explodieren, da die Tarifsteigerungen auf die Heimbewohner voll umgelegt werden dürfen. Das sind von heute auf morgen bis zu 600 Euro mehr pro Monat. Nach Angaben des PKV-Verbandes sind die Pflegeheimkosten seit Mai 2017 durchschnittlich um rund drei Prozent gestiegen. Da die Pflege insgesamt immer teurer wird, müssen die Pflegebedürftigen im stationären Bereich immer mehr aus eigener Tasche bezahlen. Die Konsequenz ist, dass die finanzielle Pflegelücke weiter ansteigt. Das kann nicht im Interesse der derzeit 780.000 Pflegeheimbewohnern sein.

Ist eine private Pflegezusatzversicherung also alternativlos?

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Das bringt die Problematik auf den Punkt. Die gesetzliche Pflegeversicherung ist und bleibt eine Teilkaskoversicherung. Ein erheblicher Teil der Pflegekosten ist von den Versicherten und ihren Angehörigen zu tragen. Erst wird die gesetzliche Rente herangezogen, dann die private Rente, dann die betriebliche Altersversorgung. Wenn das nicht reicht, geht es an das persönliche Vermögen bis hin zur eigenen Immobilie. Das Sozialamt übernimmt nur dann die Kosten, wenn das eigene Geld nicht ausreicht. An einer privaten Pflegezusatzversicherung führt daher kein Weg vorbei, sie wird trotz politischer Reformen immer wichtiger.

Wird die Zahl der Pflegebedürftigen weiter steigen?

Versicherungsbote: Wird die Zahl der Pflegebedürftigen weiter steigen?

Rainer Reitzler: Ja, das wird sie. Das liegt insbesondere an der demografischen Entwicklung. Rund acht bis zehn Millionen Menschen werden in den nächsten 15 Jahren erstmals Leistungen aus dem Pflegesystem in Anspruch nehmen. Von wesentlichen Leistungserhöhungen oder gar einer „Pflege-Vollkaskoversicherung“ können wir in den nächsten Jahren nicht ausgehen. Wer nicht auf seine Kinder oder gar die Sozialhilfe zurückgreifen will, sollte unbedingt privat vorsorgen.

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Welchen Rat würden sie einem Makler oder Vermittler für das Beratungsgespräch geben?

Zunächst müssen die Informationen über die Höhe der Pflegekosten und die gesetzlichen Pflegeleistungen exakt recherchiert werden. Das fängt beim durchschnittlichen einrichtungseinheitlichen Eigenanteil an, geht über die Kosten für Unterkunft und Verpflegung und führt weiter bis zu den Leistungen in den betreffenden fünf Pflegegraden in der häuslichen Pflege durch einen ambulanten Pflegedienst oder eine private Pflegekraft und der vollstationären Pflege in einem Pflegeheim. Eine private Pflegezusatzversicherung verkauft sich nicht wie andere Produkte. Die Beratung ist intensiv und sie erfordert ein hohes Einfühlungsvermögen. Das Risiko der finanziellen Pflegelücke ist klar und unmissverständlich zu erläutern. Nur ein Pflegeschutzprodukt, das individuell auf den Kunden zugeschnitten ist und flexibel bei den Pflegearten und in der Höhe der Absicherung ist, wird ihn zum Abschluss motivieren.

Wichtig ist auch, dem Kunden gegenüber nicht nur den Pflegegrad 5 vor Augen zu halten, der schwerste Beeinträchtigungen mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Betreuung nach sich zieht. Der Kunde könnte hier ausweichen und sich auf die Position „so will ich nicht leben“ zurückziehen. Im Jahr 2017 wurden Angaben des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen zufolge nach der Begutachtung mit dem neuen Verfahren nur zwei Prozent aller neuen Leistungsempfänger in den Pflegegrad 5 eingestuft. 29 Prozent fielen auf den Pflegegrad 1, 44 Prozent auf den Pflegegrad 2, 19 Prozent auf den Pflegegrad 3. Das bedeutet, dass sich 73 Prozent der Pflegebedürftigen im Pflegegrad 1 und 2 befinden. Eine gute Versorgung bereits in den unteren Pflegegraden verbessert die Lebensqualität und erhöht deutlich die Chancen, nicht schwerstpflegebedürftig zu werden.

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Die Fragen stellte Jenny Müller

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