Wenn der Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen mit seinen Forderungen an die Öffentlichkeit tritt, sind damit oft harte Einschnitte für sozial Schwache, Rentner oder Kranke verbunden. Gesetzlich Versicherte sollen bis zu 800 Euro pro Arztbesuch selbst zahlen müssen, das reguläre Renteneintrittsalter soll auf mindestens 70 Jahre angehoben werden, Rentenerhöhungen ausgesetzt werden - das sind Vorschläge, mit denen er in den vergangenen Monaten für Diskussionen gesorgt hat. Auch seine jüngste Idee dürfte nicht weniger sozialen Sprengstoff bieten. Er will das Bürgergeld derart reformieren, dass viele Bedürftige zukünftig kein Geld mehr überwiesen bekommen, sondern nur noch Sachleistungen - und das auf sehr niedrigem Niveau.

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Bereits in einem früheren Interview mit Focus Online hatte Raffelhüschen das Bürgergeld als eine „Fehlkonstruktion in sich“ bezeichnet, weil das Prinzip des „Förderns und Forderns“ in Zeiten vielfach unbesetzter Stellen abgeschafft worden sei. Nun legt er in einem neuen Gespräch mit Focus nach. Er knüpft hierbei an eine Ankündigung von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann an, wonach die Union in Falle einer zukünftigen Regierungsbeteiligung „als erstes großes Reformpaket“ das Bürgergeld wieder abschaffen wolle. Konkret will die Union die Vermögensprüfung vom ersten Tag an wieder einführen und nach sechs Monaten eine Arbeitspflicht durchsetzen.

Sach- statt Geldleistungen

Laut Raffelhüschen müsse der Staat „zurück zum sogenannten subsidiären Sozialstaat. Das bedeutet: Der Sozialstaat ist dafür da, dem zu helfen, der sich selbst nicht helfen kann“. Dieser Begriff stammt aus der katholischen Soziallehre und geht von der Annahme aus, dass staatliche Institutionen erst dann unterstützend eingreifen sollen, wenn sich Einzelne oder Familien nicht selbst finanziell helfen können. Indirekt betont er folglich zunächst die Pflicht der Selbsthilfe. „Die Aufstockung der Sozialhilfe ist eigentlich, was wir in unserem Sozialstaat als Normalfall haben sollten. Nach dem Prinzip: Jeder Mensch kann etwas, und das was er kann, soll er tun. Und wenn es nicht reicht, stocken wir ihn auf“, erklärt nun Raffelhüschen.

Dass ein Mensch aufstocke, weil seine Arbeit zum Leben nicht reicht, sei eigentlich der Grundgedanke der Grundsicherung, argumentiert der Ökonom weiter. „Aufstocker“ sei kein Schimpfwort: „Tatsächlich ist es das, was wir wollen“. Diesbezüglich geht ihm der Vorschlag von Carsten Linnemann nicht weit genug. Raffelhüschen fordert eine „aktivierenden Sozialhilfe“. Das ist eine Art Umkehrung des Sanktionsmodells: Bestimmte Leistungen erhalten die Betroffenen nur dann, wenn sie tatsächlich auf dem Arbeitsmarkt tätig werden. „Wir brauchen primär keine Sanktionen für Totalverweigerer. Wichtiger ist, dass wir den Bürgern sagen: ‚Wenn du aus der Grundsicherung rausgehst und etwas tust – was ja jeder kann –, dann helfen wir dir. Dann geben wir etwas dafür, dass du selbst was tust“, erklärt der Ökonom.

Was sich Raffelhüschen aber unter „aktivierender Sozialhilfe“ vorstellt, ist hart. Menschen sollen grundsätzlich für ihre Grundsicherung keinen Anspruch mehr auf Geld haben, sondern nur noch auf Gutscheine. Das aktuelle Bürgergeld solle derart geändert werden, „indem wir demjenigen, der nichts tut und sich verweigert, sagen: Du bekommst ein Existenzminimum – vielleicht die Hälfte von dem, was es heute gibt -, aber du bekommst es als Gutschein. Also keine Geldzahlungen. Weder für Bürgergeld-Empfänger noch für Zuwanderer, die nicht augenblicklich anfangen zu arbeiten“, sagt der Ökonom dem „Focus“.

Negative Auswirkungen - und Vorurteile

Auf die negativen Folgen geht Raffelhüschen nicht ein. Bereits nach den Sozialmarkt-Reformen Gerhard Schröders explodierte der Niedriglohnsektor, wie etwa Studien der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung zeigten, ganze Branchen wurden durch Aufstocker-Gelder quasi staatlich quersubventioniert. Etwa die Wach- und Sicherheitsbranche, wo Stundenlöhne von nur fünf Euro keine Seltenheit waren. Dem wäre zwar heute durch den Mindestlohn ein gewisser Riegel vorgeschoben - aber das Aufstockungsmodell erhöht auch den Druck auf „reguläre“ Löhne in gewissen Branchen.

Zudem müssten die Betroffenen Stigmatisierung fürchten, wenn sie etwa im Supermarkt oder anderen Läden nur mit Gutscheinen zahlen können. Sie wären sofort als Sozialhilfe-Empfänger erkennbar. Fraglich wäre auch, ob alle Läden die Gutscheine akzeptieren müssten. Keineswegs sind Bürgergeld-Empfängerinnen und Empfänger nur Menschen, die sich in der sozialen Hängematte ausruhen, wie es in der aktuellen Diskussion oft verzerrend dargestellt wird. Darunter befinden sich nach Statistiken der Bundesarbeitsagentur viele Alleinerziehende, pflegende Angehörige und rund 1,5 Millionen Kinder im nicht erwerbsfähigen Alter unter 15 Jahren.

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Fakt ist auch: Seit 2007 mussten die Jobcenter kontinuierlich immer seltener Leistungen kürzen, weil jemand nicht arbeiten wollte bzw. eine Arbeitsmaßnahme verweigert hat. Das geht aus Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervor. Wurden damals noch 183.430 Kürzungen wegen Arbeitsunwilligkeit vorgenommen, waren es im letzten Jahr vor Corona 2019 nur noch 82.891. Zahlen aus den Jahren danach sind hierzu wenig aussagekräftig, weil teilweise ein Sanktionsmoratorium bestand und Sanktionen nicht durchgesetzt wurden.

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