Distanzunterricht, Homeschooling bzw. webbasierter Unterricht – was noch vor Jahren die absolute Ausnahme war, wurde insbesondere durch die Coronapandemie zur Regel. Schulen mussten schließen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Eltern mussten zu Lehrern werden und Lehrer mussten Wege finden, um Bildungsprozesse online aufrechtzuerhalten. Eine Erfahrung, die auch Zukunft macht.

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Denn die neuen Erfahrungen ebneten auch der Digitalisierung im Schulalltag den Weg, so dass Lehrkräfte nun zumindest häufiger auf Möglichkeiten des webbasierten Unterrichts zurückgreifen. Wie aber ist eine solche Tätigkeit außerhalb der Schule versichert? Diese Frage wurde nun vor dem Sozialgericht (SG) München verhandelt (Az. S 9 U 158/22).

Unfälle können schnell passieren – auch beim Homeschooling

Im April 2021 – kurz vor Ende des zweiten längeren Lockdowns in Deutschland – unterrichtete eine Englischlehrerin ihre Schulklasse per Distanzunterricht. Die Lehrerin erteilte eine Aufgabe, die in Stillarbeit gelöst werden sollte – angedacht für die Lösung waren etwa zehn Minuten. Eine vierzehnjährige Schülerin wollte deswegen ihr Englischbuch holen, stand vom Schreibtisch auf – und stolperte, weswegen sie hart mit dem Kopf gegen eine Bettkante stieß.

Hierbei biss sich die Schülerin die Unterliebe durch, was schnell zu starken Blutungen führte. Zudem brach ein Zahn ab. Die Schülerin erlitt einen Schock. Aufgrund ihrer späteren Schilderung geht man sogar von einer kurzen Ohnmacht aus.

Nachdem die Schülerin wieder zu sich gekommen war, ging sie stark blutend zu ihrer Mutter und wurde in die Notaufnahme gebracht. Die Mutter informierte noch am gleichen Tag die Schule sowie eine andere Lehrerin, bei der weiterer Unterricht stattfinden sollte. Auch die Englischlehrerin erhielt noch am gleichen Tag Kenntnis von dem Unfall. Die zeitliche Abfolge legte für das Sozialgericht München deutlich dar, dass der Unfall während des webbasierten Unterrichts passierte.

Mit welchen Argumenten die Unfallkasse die Leistungen verweigerte

Die Eltern der Schülerin machten aus diesem Grund bei der gesetzlichen Unfallkasse einen Arbeitsunfall geltend – und wollten für die Tochter entsprechende Leistungen. Die Unfallkasse aber lehnte durch zwei Bescheide die Forderungen ab. Und zwar aus folgenden Gründen:

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  • Für Tätigkeiten, welche Schülerinnen und Schüler selbstständig, im häuslichen oder privaten Umfeld ohne Beaufsichtigung und Anleitung durch die Schule durchführen würden, bestehe kein Versicherungsschutz. Dies gilt laut laufender Rechtssprechung übrigens tatsächlich für Hausaufgaben, die daheim erledigt werden. Nun handelte es sich aber nicht um das Erledigen von Hausaufgaben, sondern um Online-Unterricht mit Anwesenheitspflicht.
  • Doch auch hierfür hatte die Unfallkasse ein Argument, um die Leistung zu verweigern. Gelte doch für das Erledigen von Aufgaben im Homeschooling, was für Hausaufgaben gilt. Es sei denn, eine Lehrkraft sei im Rahmen einer Videokonferenz live zugeschaltet.
  • Zum Unfallzeitpunkt habe jedoch keine durchgängige akustische oder optische Kommunikation zwischen Lehrkraft und Schülern bestanden.

Die Unfallversicherung wollte sich also mit dem Argument aus der Einstandspflicht stehlen, dass sie nicht leistungspflichtig ist, sobald Schüler*innen nicht konstant beim Distanzunterricht zugeschaltet wären – und zwar sowohl optisch als auch akustisch. Weil sich zur besagten Veranstaltung viele Schüler stumm geschaltet hatten oder die Videokamera ausgeschaltet hatten, als sie den Unterricht verfolgten, wollte die Unfallversicherung die Leistung verweigern. In dieser strengen Auslegung müssten also alle Schüler konstant zugeschaltet sein, damit der Unterrichtsstatus anerkannt wird. Ein Argument, das an der Praxis des Homeschoolings und des webbasierten Distanzunterrichts völlig vorbei geht, wie auch die Gerichtsverhandlung zeigte.

Wie das Gericht entschied – warum muss die gesetzliche Unfallversicherung leisten?

Die Eltern der verunglückten Schülerin ließen sich nicht auf die Argumentation der Unfallkasse ein und klagten vor dem Sozialgericht. Diesbezüglich ist es zunächst wichtig, die Praxis des Distanzunterrichts zu schildern. Denn die Argumentation der Unfallkasse geht schon deswegen an der Praxis des Distanzunterrichts vorbei, weil die Schule von den Schülern sogar explizit forderte, das Mikrofon stumm zu schalten. Nur während eines berechtigten Wortbeitrages sollten die Schüler das Mikrofon aktivieren. Das hat seinen guten Grund – Homeschooling bietet nicht nur Vorteile. Wenn der private Raum auch Unterrichtsraum wird, betrifft ein wesentliches Problem den Datenschutz.

Wie die Lehrerin ihrer Schülerin zur Seite sprang

Wie sehr die Argumente der Unfallkasse außerdem die Realität des Homeoffice verfehlten, zeigt die Argumentation der Englischlehrerin. Denn die Englischlehrerin wurde zu einer wichtigen Zeugin vor Gericht. Dies betrifft insbesondere die Frage, ob über Distanz ein regulärer Unterricht aufrecht erhalten kann – die Unfallkasse schien dies im eigenen Interesse anzuzweifeln. Was jedoch falsch ist:

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  • So besteht während des Distanzunterrichts Anwesenheitspflicht – wie bei einer regulären Schulstunde auch. Da die Lehrerin sieht, welche Schüler sich einloggen, kann sie die Anwesenheit auch kontrollieren.
  • Die Lehrerin achtet während des Distanzunterrichts auch darauf, alle Schüler aufzurufen – hierdurch hat sie Kontrolle über die Mitarbeit.
  • Es ist normal, dass während der Lösungszeit die Zahl der Schüler online kurz abnimmt, die sich dann zur Auflösung der Aufgaben wieder einloggen. Dies bedeutet jedoch keine Abwesenheit, sondern die Schüler bearbeiten in der gegebenen Zeit die Aufgaben und loggen sich danach wieder ein.
  • Durch ein Feedback zum Ende des Unterrichts, das von den Schülern verlangt wird, ist aber auch eine konstante Teilnahme über die gesamte Zeit des Distanzunterrichts garantiert.

Diesbezüglich stellte die Lehrerin auch heraus, dass es sich bei der Schülerin um eine engagierte und fleißige Schülerin handelt, die sich stets an den Aufgaben beteiligt. All diese Punkte sprechen dagegen, den Status des regulären Unterrichts anzuzweifeln oder sogar daran zu zweifeln, dass die Beteiligung am Unterricht ursächlich für den Unfall war.

Der Gesetzgeber ist eigentlich deutlich

Dass die Unfallkasse die Leistung verweigert, erstaunt aber auch durch einen anderen Punkt, auf den das Sozialgericht München hinwies. Denn die Verbreitung des Homeschoolings, aber auch des Homeoffice schuf eine Rechtsunsicherheit bezüglich des Versichertenstatus, auf die der Gesetzgeber bereits mit einer Neuregelung in Paragraf 8 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VII) reagierte – dem Paragrafen zum Arbeitsunfall. In Absatz 1 Satz 3 des Paragrafen heißt es: "Wird die versicherte Tätigkeit im Haushalt der Versicherten oder an einem anderen Ort ausgeübt, besteht Versicherungsschutz in gleichem Umfang wie bei Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte."

Ein Satz, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Die Änderung trat zusammen mit dem am 18.06.2021 in Kraft getretenen Betriebsrätemodernisierungsgesetz (BRMG) in Kraft. Und so urteilt auch das Münchener Sozialgericht in aller Deutlichkeit: "Eine klare Grenzziehung dergestalt, dass der Schutzbereich der Schülerunfallversicherung an der eigenen/elterlichen Wohnungstür endet, ist mit der Neuregelung in Paragraf 8 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nicht mehr vereinbar. (...) Auch das Gericht empfindet es daher als sachgerecht, den Unfallversicherungsschutz an diese veränderten Lebensumstände anzupassen."

Für "synchronen" Unterricht muss die gesetzliche Unfallversicherung leisten

Letztendlich grenzt das Gericht zwei Unterrichtsformen ab: Den synchronen und den asynchronen Unterricht. Synchron bedeutet hierbei, "dass Lehrperson und Schüler gleichzeitig in einem fest definierten Zeitraum... an einer Lehrveranstaltung teilnehmen". Und um einen solchen handelt es sich auch beim Online-Englischunterricht:

"Beim Online-Englisch-Unterricht handelte es sich um synchrone Lehre, da der Unterricht in einem fest definierten Zeitraum mit fixem Start- und Endzeitpunkt stattgefunden hat. Eine beidseitige Kommunikationsmöglichkeit mittels Ton- und Bildübertragung hat jederzeit bestanden, da grundsätzlich von Seiten der Lehrerin und der Schüler Kontaktaufnahme möglich gewesen ist. Die Schüler und die Lehrerin hätten sich jederzeit per Kamera und Audio hinzuschalten können. Dass die Kameras und Mikrofone zwischenzeitlich ausgeschaltet waren, ist datenschutzrechtlichen und organisatorischen Gründen geschuldet und für den Versicherungsschutz hier unschädlich."

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Aus diesem Grund gelangt das Gericht auch "zusammenfassend zur Überzeugung, dass der notwendige sachliche Zusammenhang zwischen Schulbesuch und unfallbringender Verrichtung gegeben ist. Nach alledem war der Klage im Hinblick auf die Anerkennung des Ereignisses (...) als Versicherungsfall stattzugeben." Anders gesagt: Beim Unfall der Schülerin handelt es sich laut Sozialgericht München um einen Arbeitsunfall, so dass die gesetzliche Unfallversicherung hierfür aufkommen muss. Das Urteil ist online verfügbar.

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