Vor etwas mehr als einem Jahr lag dem Spiegel ein Brandbrief der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hessen vor, in dem hart gegen die Gesundheitspolitik polemisiert wurde. Nun wählt die KV Hessen aber einen direkteren Weg über das eigene Mitgliedermagazin. Und es kommt einiges an offener Polemik zusammen: Karl Lauterbach wird als „skurriler Wissenschaftler“ mit einer nur „vermeintlichen“ epidemiologischen Expertise angegriffen, der mit seiner Gesundheitspolitik „gescheitert“ sei. In insgesamt vier Artikeln des Magazins kommen derartige und offene Worte vor.

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Lauterbachs Expertise: Die „vermeintliche epidemiologische Expertise“ eines „skurrilen Wissenschaftlers“

Liest man die Kritik der KV-Vorstände, meint man, es handle sich bei Lauterbach um einen jener Pseudowissenschaftler, wie sie im Zuge der Corona-Debatte vielfach aus der Anonymität an die Öffentlichkeit traten. Zwar gesteht man zunächst dem Gesundheitsminister scheinbar eine gewisse Expertise zu – Lauterbach sei „nicht so fachfremd wie Herr Spahn und Herr Gröhe oder auch Frau Schmitt“. Jedoch wird dieses Zugeständnis zugleich wieder kassiert. Der folgende Satz zeigt dies in all seiner polemischen Härte: „Wir wollen hier nicht beckmesserisch auftreten, aber (Lauterbachs) Scheitern (…) ist ein Scheitern mit jahrelanger Ansage. Lauterbach, der als skurriler Wissenschaftler mit vermeintlicher epidemiologischer Expertise seine Nische dank Corona gefunden zu haben schien, wäre wohl besser in selbiger geblieben.“

Die KV Hessen wirft Lauterbach den Verfall von Impfdosen vor – und forderte vor einem Jahr selber mehr Dosen

Die Vorstände machen sich zudem Sorgen über den Fortgang der Gesundheitspolitik – und prophezeien nichts Gutes: Was man „an Insider-Informationen aus dem Bundesgesundheitsministerium“ höre, würde „schlimmste Befürchtungen“ wahr werden lassen bzw. diese „sogar noch übertreffen“. Zudem schreibt das Vorstands-Duo: „Strategie, Organisation, Idee – alles Fehlanzeige“. Und der polemische Text bringt ein konkretes Beispiel: Mittlerweile säße „der Bund dem Vernehmen nach auf rund 70 Millionen Impfdosen, die auch noch bald ablaufen werden“. Lauterbach jedoch würde „nach dem grandiosen Scheitern der Impfpflicht“ davon „fantasieren“, die „Impfkampagne wiederzubeleben" – und hat aus Sicht der KV Hessen demnach jeden Bezug zur Realität verloren.

Kurz vor Überforderung der Praxen: Verband wand sich gegen "überflüssige" Impfzentren

Nun ist die KV Hessen nicht die Einzige, die Lauterbach aktuell einen fehlenden Realitätsbezug vorwirft – ähnlich äußert sich zum Beispiel auch FDP-Politiker Wolfgang Kubicki. Fehlende Weitsicht aber könnte man auch dem Brandbrief der hessischen Funktionäre vor einem Jahr vorwerfen. Störten sich die Vorstände Dastych und Starke doch damals an einer Tatsache besonders: am Betreiben von Impfzentren durch das hessische Innenministerium.

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Der Spiegel zitiert beide Funktionäre wie folgt: Es sei „an Absurdität kaum zu überbieten [...], wenn sich ehrenwerte Impfzentren und damit auch in erster Linie das hessische Innenministerium bei Vaxzevria erst einen schlanken Fuß und dann vom Acker machen“. Hingegen würden die Praxen bei der Vergabe der Biontech-Impfdosen vernachlässigt, so dass bei niedergelassenen Ärzten zwar der unbeliebte Impfstoff AstraZeneca zur Verfügung stünde, nicht aber der weit beliebtere Impfstoff.

Impfzentren würden "überflüssigerweise" betrieben

Zu den Impfzentren des Landes aber hatten die KV-Funktionäre damals eine überraschend eindeutige Meinung: diese würden schlicht „überflüssigerweise“ betrieben! Zwar mag man zur Verteidigung des Brandbriefes einwenden: Der Andrang war im Mai 2021 sicher weniger groß als einige Monate später in der herbstlichen Omikron-Welle. Schon im Mai aber berichteten Öffentlich-rechtliche Medien, dass Impfzentren und Praxen mit sogenannten „Impfdränglern“ überfordert seien.

Spätestens aber im Herbst 2021 war dann der Vorwurf der KV Hessen völlig hinfällig und erwies sich als Fehlprognose: Ab da nämlich drangen kontinuierlich Hilferufe überforderter Arztpraxen aus den Medien. So vermeldete die Hessenschau zum Beispiel im November 2021: Hausärzte und Impfstellen wären dem Booster-Andrang nicht gewachsen.

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Ab November 2021 mussten viele Kassenärzte die Patienten an die Impfzentren verweisen

Den Berichten nach bildeten sich vor den Impfstellen lange Schlangen, manche Praxen stellten die Impftätigkeit ganz ein. Und die Kassenärztliche Vereinigung Hessen vermeldete im November dann auch selber: Ein Drittel der 5.000 Arztpraxen in Hessen würde überhaupt keine Impfung anbieten – und deswegen die Patienten sofort an die Impfzentren verweisen. Welche Ressourcen für eine Pandemie vorzuhalten sind, läßt sich demnach auch für die KV Hessen nicht zuverlässig vorhersagen, da zu viele Unsicherheiten ein Pandemie-Geschehen bestimmen. Das Mitgliedermagazin der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen ist online verfügbar.

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