Kann ein Treuhänder als unabhängig gelten, der mehr als 300.000 Euro im Jahr von einem einzigen Versicherer erhält und ein Großteil seines Einkommens von ihm bezieht? Das ist grob zugespitzt die Frage hinter dem Treuhänderstreit der privaten Krankenversicherer. Seit 1994 sind die Versicherer gesetzlich verpflichtet, jede Prämienanpassung zu Lasten ihrer Kund*innen von einem unabhängigen Treuhänder prüfen zu lassen. Die Aktuare haben eine Watchdog-Funktion und sollen die Verbraucher vor unberechtigten Prämien-Sprüngen schützen. Erweisen sie sich als befangen, können möglicherweise Millionen Privatversicherte Geld vom ihrem Versicherer zurückverlangen, wenn er die Prämien anhob.

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Mehr als einhundert Verfahren führt die Berliner Anwaltskanzlei Pilz, Wesser und Partner in dieser Angelegenheit gegen Versicherer wie Axa und die Ergo-Tochter DKV. Dabei geht es längst nicht mehr nur um Sachargumente. Die Kanzlei auf der einen Seite und der Verband der privaten Krankenversicherer auf der anderen (PKV) streiten zunehmend mit harten Bandagen. Und überziehen sich gegenseitig mit Beschuldigungen. Darüber berichtet am Mittwoch procontra Online.

Urteil des OLG Celle: Aufatmen für Versicherer

Anlass für den aktuellen Beef ist ein Urteil des Oberlandesgerichtes Celle (OLG): das erste Urteil einer höheren Instanz. Dieses fiel ganz zum Wohlgefallen der Versicherer aus und ließ manchen Branchenbeobachter verwundert die Augen reiben (der Versicherungsbote berichtete):

Es komme nämlich gar nicht auf die finanzielle Unabhängigkeit der Treuhänder an, so betonten die Richter: Es sei in Ordnung, wenn sie einen Großteil des Einkommens von einem einzigen Versicherer beziehen. Stattdessen sei entscheidend, dass die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) die Treuhänder für die Aufgabe zugelassen habe. Die BaFin aber prüft überhaupt nicht, woher ein Aktuar sein Geld bezieht - und wie viel (Urteil vom 20. August 2018, Az.: 8 U 57/18).

Für die betroffenen Verbraucher war das Urteil ein Schlag ins Gesicht. Unabhängige Treuhänder sollen als eine Art Verbraucherinstanz über die Korrektheit der Prämienanhebung urteilen - aber es sei letztendlich gar nicht entscheidend, ob diese Treuhänder tatsächlich unabhängig sind? Das muss man erst einmal erklären. Taten die Richter auch: demnach könne jede PKV-Prämienanpassung vor Gericht überprüft werden. Entscheidend hierfür sei jedoch, ob sie tatsächlich korrekt erfolgt ist und in der angemessenen Höhe. Sonst könne nämlich eine juristische Prüfung dazu führen, dass sachlich gerechtfertigte Beitragserhöhungen durch unterschiedliche Gerichte mal gebilligt und mal abgelehnt würden – nur wegen der Einkommensverhältnisse der prüfenden Gutachter. Ein heilloses Chaos wäre die Folge.

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Dennoch wirft das Urteil Fragen auf. Selbst wenn man dem Richterspruch folgt, stellt sich die Frage, welche Funktion die Treuhänder überhaupt haben, wenn es letztendlich für einen Prämienanstieg egal ist, ob sie befangen darüber urteilten oder nicht. Sie wären schlicht überflüssig und als Kontrollinstanz wirkungslos. Auch die Klagen der Anwaltskanzlei Pilz verfolgen die vermeintliche Befangenheit der Treuhänder als Hauptargument, warum frühere Prämienanpassungen unwirksam seien. Folglich nennt Anwalt Knut Pilz das Urteil gegenüber procontra Online einen „fehlerhaften Einzelfall“, der ziemlich sicher vom Bundesgerichtshof (BGH) gekippt werde. Im Oktober wird ein Urteil des obersten Gerichtes erwartet.

Befangenheitsanträge, Verzögerungen - und Geheimprozesse?

Hat sich das Oberlandesgericht Celle also vertan, als es im Sinne der privaten Krankenversicherer urteilte? Verbraucheranwalt Knut Pilz beruft sich auch auf seine Erfolge in den unteren Instanzen. Er habe 50 noch nicht rechtskräftige Urteile vor 25 Gerichten erstritten, berichtet „procontra Online“.

Diese Interpretation aber will der Verband der privaten Krankenversicherer nicht unwidersprochen stehen lassen. Und so tritt nun Stefan Reker auf, Mitglied des Vorstandes im Interessenverband. „Das Urteil des OLG Celle ist keineswegs eine Einzelauffassung. So vertritt etwa auch das LG Darmstadt – wie bereits weitere Landgerichte zuvor – die ‚Auffassung, dass die Unabhängigkeit des Treuhänders im vorliegenden zivilrechtlichen Verfahren nicht zu prüfen sei‘", sagte Reker dem Webportal.

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Befangenheitsanträge, um Verfahren hinauszuzögern?

Das Mitglied des PKV-Verbandes erhebt zugleich schwere Vorwürfe gegen den Verbraucheranwalt. Mit dem Urteil des Oberlandesgerichtes sei ersichtlich, dass die klagenden Verbraucher letztendlich unterliegen werden. Aber um weiterhin in der Sache klagen zu können, unternehme die Kanzlei von Knut Pilz alles, damit die Rechtsstreite so bald kein Ende finden. "Hier werden die prozessualen Möglichkeiten – bis hin zu Befangenheitsanträgen gegen das Gericht – bisweilen von Klägerseite ausgenutzt, um drohende Niederlagen vor Gericht hinauszuzögern“, positioniert sich das Mitglied des PKV-Verbandes.

Einen solchen Befangenheitsantrag habe die Kanzlei Pilz unter anderem gegen die Richterin des Landgerichtes Darmstadt gestellt, als sie im Sinne des beklagten Versicherers urteilte. Auch sie habe wie das OLG Celle betont, dass die Unabhängigkeit des Treuhänders nicht entscheidend dafür sei, ob ein Versicherer die Prämien korrekt angehoben habe. Tatsächlich führen solche Anträge dazu, dass Rechtsstreite deutlich mehr Zeit verschlingen, bis ein Urteil ergehen kann.

Doch Rechtsanwalt Pilz wehrt sich: den Befangenheitsantrag begründet er gegenüber procontra damit, dass sein Mandant die Kosten für ein versicherungsmathematisches Gutachten habe selbst zahlen sollen. Er sah die prozessualen Rechte des Klägers dadurch verletzt. Auch dies Einzelfälle: Lediglich in drei von hundert Verfahren sei ein Befangenheitsantrag gestellt worden.

Prozesse hinter verschlossenen Türen?

Aber auch Knut Pilz hat noch einen Konter parat, um den Privatversicherern ein blaues Auge mitzugeben. Die Axa und DKV würden beantragen, alle Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen - um zu verhindern, dass Rechtsverstöße publik werden, so erklärt Pilz laut dem Bericht. Dabei würden sich die Versicherer auf den Schutz von Geschäftsgeheimnissen und der Treuhänder berufen.

Der Vorwurf trifft eine Branche, die ohnehin als intransparent gilt, gerade mit Blick auf Prämienanpassungen. Auch der Versicherungsbote machte bereits mehrfach die Erfahrung, dass private Krankenversicherer Auskünfte zu konkreten Prämienanpassungen verweigern - eben mit Verweis darauf, dadurch könnten Wettbewerber Einblick in die Kalkulation und die Struktur der Versicherten erhalten. Vor diesem Hintergrund stellt sich dann aber die Frage, wer dann darüber wachen soll, dass beim Auf und Ab der Prämien alles seine Richtigkeit hat. Folgt man dem Urteil des OLG Celle, hätten die Treuhänder geradezu eine Alibifunktion: Der Gesetzgeber wäre gefragt.

Auch mit Blick auf die Transparenz der Treuhänder-Aktivitäten lässt das Urteil aus Celle aufhorchen. Die niedersächsischen Richter betonten nämlich, dass die Öffentlichkeit möglicherweise gar keinen Einblick erhalten darf, von wem die Aktuare in welcher Höhe entlohnt werden: Dies sei ein Eingriff in die "informelle Selbstbestimmung" des Treuhänders. Der Prüfende könnte folglich sein komplettes Einkommen von einem einzigen Versicherer beziehen und dennoch als unabhängig gelten. Denn wie bereits erwähnt: Die BaFin prüft ebenfalls nicht, woher der Treuhänder sein Geld bekommt.

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Fest steht: Aktuell dürfen die Privatversicherer die Prämien nur anheben, wenn sogenannte auslösende Faktoren vorliegen. Das ist immer dann der Fall, wenn die Leistungsausgaben um zehn Prozent höher sind als ursprünglich kalkuliert und wenn sich die Lebenserwartung der Versicherten derart erhöht, dass die Anbieter höhere Gesundheitskosten haben. Aktuell kann das dazu führen, dass der Versicherer die Prämien jahrelang nicht anheben darf - sie dann aber umso extremer steigen. Die plötzlichen Prämiensprünge nagen am Image der Privatversicherer. Deshalb fordert der PKV-Verband vom Gesetzgeber, auch die Entwicklung der Zinsen am Kapitalmarkt als auslösenden Faktor zu werten.

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