Prof. Dr. Philipp Schade

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Nachdem ich nun eine Weile intensiv die Kommentare und die korrespondierenden Artikel sowie die Meinungsäußerungen und Kontroversen über den fairriester verfolgt habe, liegt es mir als Aktuar am Herzen, den oft einseitigen und fragwürdigen Argumenten etwas Fachwissen und Tiefgang gegenüber zu stellen.

Dies erscheint mir insbesondere deshalb nötig, weil die lautstarken „Kritiker“ professionelle Expertise im Versicherungsumfeld für sich reklamieren und ihr „lautstärkster“ Vorbeter (Herr Joachim Haid) sich von dem Gefolge offensichtlich als „Riester-Papst“ feiern lässt. Einen aufgeworfenen Kritikpunkt möchte ich daher als ersten Fachbeitrag aufgreifen: das „Rentenfaktor“-Argument. In einem Folgebeitrag werde ich noch auf den weiter geäußerten Kritikpunkt der „verschwiegenen Kosten“ zu sprechen kommen und damit hoffentlich zu einem gesteigerten Verständnis des „Kostenbegriffs“ in Versicherungsprodukten beitragen.

Doch zunächst zum Rentenfaktor: Wenn die Haid-Gemeinde einen von fairr.de genannten voraussichtlichen Rentenfaktor (inklusive Überschüssen) von (bis zu) 45 EUR Rente auf 10.000 EUR Kapital für „abenteuerlich“ hält, muss ich deren Mitgliedern offensichtlich eine gewisse sachlich-fachliche Desorientierung unterstellen – um höflich zu bleiben.

Leider schafft es keiner der Autoren und Kommentartoren, etwas fachliche Substanz in die Diskussion einzubringen, obwohl sich Herr Haid immerhin darum bemühte. Das leidige Argument der „abenteuerlichen Rentenfaktoren“ wird stattdessen kritiklos ständig wiederholt, obwohl klar sein sollte, dass permanentes Wiederholen einer Behauptung an deren Wahrheitsgehalt wohl wenig ändert.

Als Aktuar bin ich erstaunt über die fachliche Dünne in den Argumentationssträngen der fairriester-Verächter. Enttäuscht bin ich allerdings auch über die unreflektierte Äußerung meines Kollegen Herrn Kleinlein. In diesem Zusammenhang erscheint es für das Verständnis gewinnbringend, sich dem Thema anstatt aus versicherungstechnischer einmal aus rein finanzmathematischer Sicht zu nähern. Das lohnt sich insbesondere, weil in der Argumentation und in heutigen Produkten erstaunlicherweise wenig Wahrscheinlichkeitsargumentation benötigt wird – wie sich zeigen wird.

Im Wesentlichen sollen drei Punkte aufgegriffen bzw. hinterfragt werden: Die von Herrn Haid argumentierte, angenommene Lebenserwartung, deren fragwürdige lineare Fortschreibung in alle Ewigkeit und schließlich eine simple Rechnung zum einfachen Verständnis des Begriffs des „Rentenfaktors“.

Zur Lebenserwartung

In einem der Kommentare [siehe procontra online, fairr.de reagiert auf Vorwurf der Kostenverschleierung] finden wir einen zahlenmäßig hinterlegten Argumentationsstrang des „Riester-Papstes“, der sich in seiner Darstellung jeweils kritiklos auf die gültigen DAV-2004R-Sterbetafeln der Deutschen Aktuar-Vereinigung bezieht. Lobenswerterweise versucht er als einziger, hier mit ein paar Zahlen Licht ins „Dunkle“ zu bringen. In Bezug auf die so genannte fernere Lebenserwartung im Rahmen der erwähnten DAV-Tafeln verweist Haid darauf, dass eine Rentenversicherung heute im Schnitt für eine bereits 67-jährige Person bis zum Alter 90 (Mann) bzw. 94 (Frau) zahlen müsste. Die genannten Zahlen relativieren sich allerdings, wenn erwähnt wird, dass die DAV-2004R-Tafel die Sterblichkeit stark unterschätzt, also von einem deutlich längeren Erleben des Versicherten ausgeht, als in der Wirklichkeit zu beobachten ist.

Als interessante Lektüre sei dazu einmal „Nachgerechnet: Entwicklung der Sterblichkeit bis 2011“ von Harald Jaeger empfohlen [Jaeger, Harald, „Nachgerechnet: Entwicklung der Sterblichkeit bis 2011“, Der Aktuar, 2012]. Demnach unterschätzen die DAV-2004R-Tafeln die Sterblichkeit im Vergleich zur profunden statistischen Masse der deutschen Rentenversicherung – damit also zur Realität – um erstaunliche 40 %, während beispielsweise die Heubeck-Richttafeln RT-2005R (verwendet für die betriebliche Altersversorgung) die Sterblichkeit um ca. 5-6 % überschätzen, dort wird also rechnerisch heftiger gestorben, als in der Praxis zu beobachten. Interessieren sollte hierbei das abschließende und bemerkenswert korrekte Argument des Aufsatzes, dass insbesondere bei Hochrechnungen für eine zukünftige „Langlebigkeit“ die betrachteten Tafeln weit auseinander- und damit an der Realität wohl vorbeilaufen. Die (wie üblich produktorientierte) unreflektierte Argumentation zur Zukunftsexplosion der Lebenserwartung der Makler- und Vermittlerseite sollte damit begründet in Frage gestellt werden!

Zur unrealistischen Annahme einer linearen Steigerung

Das in diesem Zusammenhang und auch bei der fairriester-Kritik immer wieder angebrachte Argument eines ewig anhaltenden linearen Anwachsens der Lebenserwartung erscheint mir ebenfalls nicht realistisch. Zum einen gibt es in der Natur eher keine linearen Zusammenhänge — die Annahme allein ist daher schon auf dieser Basis kritisch zu hinterfragen. Zum anderen ermöglicht der medizinische Fortschritt zwar irgendwann die Heilung einiger heute (noch) nicht gut therapierbarer Krankheiten (z. B. Krebs), was aber die endliche Teilbarkeit der Zelle letztlich nicht tangiert.

Biologen sprechen daher — trotz medizinischen Fortschritts — von einem unter perfekten Bedingungen erreichbaren Maximalalter zwischen 120 bis 140 Jahren [vgl. bspw. allgemein unter „Biologische Grundlagen des Alterns“, bspw. Paul-Flechter-Institut, Uni Leipzig oder den schönen Überblicksartikel von Tosato et al., „The aging process and potential interventions to extend life expectancy“, Clinical Intervention in Aging, Nr. 2(3), 2007]. Dass mittlerweile eine erstaunliche Gegenentwicklung statistisch festzustellen ist, wird in einer beachtenswerten amerikanischen Studie deutlich [siehe dazu Olshansky et al., „Differences In Life Expectancy Due To Race And Educational Differences Are Widening, And Many May Not Catch Up“, Health Affairs, 31, Nr. 8, 2012].

Dort wird der offensichtliche Zusammenhang zwischen Bildung und Langlebigkeit in den USA im Detail untersucht und gezeigt, dass mittlerweile in bestimmten (bildungsfernen) Personengruppen durchgängig ein Rückgang der Lebenserwartung festzustellen ist. Darüber hinaus zeigt sich vor allem in den USA eine signifikante Trendumkehr in der Stärke des Zuwachses der Langlebigkeit (sozusagen die zweite Ableitung) — ein Muster, das für Europa künftig zu erwarten ist [siehe dazu bspw. auch Regenauer, Achim, „Stoppt die Adipositas-‚Epidemie‘ den Trend zur Langlebigkeit?“, Versicherungswirtschaft, Nr. 62 (2007)]. Mit der drastischen Zunahme der diagnostizierten Krebsbefunde explodieren darüber hinaus die Medikament- und Behandlungskosten, was auf Dauer nur schwer finanziert werden kann. Nicht jeder wird sich daher im hohen Alter die Behandlungskosten leisten können, was – so traurig die Aussage auch ist – eher nicht lebensverlängernd wirkt.

Zusammenfassend darf daher ernsthaft mit einer Trendwende in der Langlebigkeitsentwicklung gerechnet werden, so dass die sinnfrei fortgesetzte Annahme ewig steigender Höchstlebensalter und damit die Argumentation der hier beteiligten Kritiker stark in Frage gestellt werden muss.

Eine einfache Rechnung zum wirklichen Verständnis

Dem „Rentenfaktor“ wollen wir uns abschließend einmal auf eine andere Weise nähern. Mit Versicherungsmathematik scheint er gar weniger zu tun zu haben, denn Sterblichkeiten werden für die Argumentation kaum benötigt. Im aktuarischen Sinne wäre der Rentenfaktor anders zu ermitteln (als ein so genannter Rentenbarwertfaktor für eine lebenslang zahlbare Rente der Höhe 1), und zwar durch einfache Division: „Kapital durch Monatsrente durch 12“. Im Fall der beim fairriester als abenteuerlich kritisierten 45 EUR Monatsrente pro 10.000 EUR Kapital ergibt das schließlich einen Rentenbarwertfaktor in Höhe von 18,52.

Und damit zum Verständnis: Bei pessimistischer Annahme einer reinen „Nullzinswelt“ reicht das angesparte Kapital ab dem Rentenbeginn (hier beispielsweise Alter 67) mit Sicherheit insgesamt 18,52 Jahre aus, also bis zum Alter 85,52. Ohne Annahme irgendeiner Verzinsung („Geld unterm Kopfkissen“) reicht das Kapital allein schon bis ins 86. Lebensjahr hinein.

Zwei Effekte sind dann aber die Auszahlung noch „verlängernd“ zu berücksichtigen: nämlich zum einen die doch existierende Sterblichkeit bereits vor Rentenbeginn bei kollektivierter Betrachtung – sofern der Rentenversicherungsteil im Riesterprodukt sozusagen von Anfang an „bespart“ wird – und zum anderen die erzielbaren Zins- und Zinseszinsen. Nehmen wir beispielhaft einmal die 40-Jährigen (ich hab mich dazu an Herrn Haid orientiert). Von einhundert Personen dieses Alters erreichen nur 88 überhaupt das Alter 67 (am Beispiel der Heubeck-Sterbetafeln und dem Geburtsjahrgang 1975). Die Wirkung des Arguments hängt allerdings von der Gestaltung der Todesfallleistung bis zum Rentenbeginn ab. In jedem Fall wird die (aktuarische) Empfehlung deutlich, dass der Rentenversicherungsteil zur Absicherung des Risikos der Langlebigkeit erst sinnvollerweise möglichst spät, frühestens demnach zum Rentenbeginn „installiert“ werden sollte – ein Punkt, den wir in einer gesonderten Diskussion zu den „Kosten“ sicherlich noch aufgreifen werden und der den Verkauf jeder Rentenversicherung vor Rentenbeginn scharf in Frage stellen sollte (hat uns aber wohl noch niemand erzählt!) – es sei denn das betrachtete Kollektiv ist wirklich stark sterblichkeitsanfällig und ich als versicherte Person hätte die Chance auf sämtliche Risikogewinne. Moderne Rentenversicherungsprodukte sollten daher zunächst über einen klassischen Auszahlungsplan bis zu einem individuell definierten Endalter (meinetwegen 95) eine Rentenzahlung leisten. Sofern der Versicherte das Endalter erreicht, wird mit einem entsprechend zu kalkulierendem Restkapital die (nun wirklich) geringe Resterlebenswahrscheinlichkeit (wir sprechen von sog. tail risks) über eine Rentenversicherung – die ihrer Funktion der Langlebigkeitsabsicherung nun gerecht wird – abgesichert. Leider kennen wir solche Produkte am deutschen Markt nicht.

Betrachten wir nun ebenfalls aber eine Verzinsung in der Rentenphase. Wird beispielsweise nach Auszahlung der jeweiligen Monatsrente das Restkapital rein finanzmathematisch mit einem angenommenen Zinssatz von 3 % verzinst, ergibt sich allein daraus eine mögliche Rentenzahlungszeit von 26,96 Jahren (bei monatlich vorschüssiger Zahlung). Das angesparte Vermögen reicht daher locker bis zum Alter 94.

Wohlgemerkt, ohne Versicherung bis Alter 94! Aus Sicht eines Versicherungskollektives darf bei einer monatlichen Rente von 45 EUR pro 10.000 EUR die durchschnittlich versicherte Person mit dieser attraktiven Rentenhöhe also 94 Jahre alt werden, ohne das Kollektiv in eine Unterfinanzierung zu führen. Bis hierhin wäre also im strengen Verständnis gar keine Versicherung notwendig. Das Alter 94 ist mit Blick auf die geschärfte „Sense“ von Mutter Natur doch eher als ambitioniert für den Durchschnitt einzustufen – auch bei fortschreitender Lebenserwartung (vgl. auch die obigen Aussagen zu DAV-2004R, die hier kürzer greift). Die üblichen Rentenfaktoren in aktuellen (insbesondere fondsgebundenen) Verträgen liegen übrigens gerne bei 28 und aufwärts, also nur ca. 30 EUR Rente auf 10.000 EUR und schlechter. Bei ebenfalls angenommener Verzinsung von 3 % reichte hierbei die Rentenzahlung dann immerhin bis zum Alter 128. Bei vielen dieser Verträge übrigens deutlich darüber hinaus. Das ist sportlich! Wozu wird dann noch eine Versicherung benötigt, wäre die berechtigte Frage? Ein Langlebigkeitsrisiko ist hier nicht mehr relevant! Der Verkauf solcher Verträge kann daher nicht im ernsthaften Interesse des Kunden liegen. Dem von dem Makler Herrn Simonov aus Landshut in seinem Blog geäußerten Statement „[…] Absicherung von Langlebigkeitsrisiken ist nämlich Versicherern vorbehalten, weder eine Fondsgesellschaft wie DWS oder Union Investment noch eine Bank wie im Fall von Fairr Sutor darf oder kann das“ muss ich daher mit Verweis auf das „kann das“ rigide widersprechen [siehe dazu procontra online, Tenhagens Riester-Liebling]. Schade also, dass mit Verweis auf das AltZertV überhaupt ein Anschlussversicherer verpflichtend ist. Ein Riester-Auszahlplan mit definiertem Endalter könnte durchaus eine spannende alternative Riester-Gestaltung sein.

Jetzt könnte die Gruppe der „Experten“ argumentieren: „3 % Verzinsung, wo kriegen wir die denn heute noch?“ Es scheint möglich, argumentieren doch gerade die Versicherer aktuell mit einer Verzinsung im Bestand von 3,89 % [siehe bspw. Assekurata, „Marktausblick zur Lebensversicherung 2015/2016“, Juni 2015, Köln]. Demnach sollte die Annahme von 3 % ernsthaft keine Sorge bereiten, insbesondere wenn bedacht wird, dass bei freier Anlage am Kapitalmarkt (die klassisch „versicherungsförmig“ eben nicht machbar ist) durchaus andere Renditechancen erreichbar sind, wobei nicht zwingend ein höheres Risiko eingegangen werden muss (aber eben keine Garantie). Übrigens gelangt man mit 3,7 % Verzinsung ohne eine Versicherung im Rentnerbestand zu der von Haid in seiner Hochrechnung angedrohten durchschnittlichen Lebenserwartung von 98 Jahren, falls ein heute 30-Jähriger einen Rentenversicherungsvertrag abschließt und ab 2052 seine „lebenslange“ Rente beziehen möchte.

Gerne sollte auch dieser Argumentationspunkt einmal gesondert diskutiert werden, weil er dem Leser auf schöne Weise ein grundlegendes Wissen darüber vermittelt, wie „Garantie“ heute in der klassischen Lebensversicherung „entsteht“ und was darunter zu verstehen ist.

Damit verbleibt mir abschließend noch zu mutmaßen, dass die Wiederkäuer des Abenteuerlichkeitsarguments eine bedrückend langweilige Vorstellung von „Abenteuer“ zu haben scheinen (nämlich wohl bestenfalls im Sinne ekstatischen Polierens von Gartenzwergen). Ein Rentenfaktor von 18,52 oder eben 45 EUR Rente auf 10.000 EUR Kapital ist aktuarisch attraktiv für den Versicherungskunden und für Anbieter realistisch zu finanzieren, wenn insbesondere mit schlanken Kostenstrukturen gearbeitet wird und wenn darüber hinaus nicht im (veralteten) Denken der klassischen Lebensversicherung argumentiert wird.

Fazit: Hier hat sich scheinbar eine Gruppe identisch Agitierender unter dem Vorwand der Kritik an der Irreführung des Verbrauchers auf den fairriester eingeschossen. Ich staune über den dürftigen fachlichen Tiefgang der Argumente dieser bis zum „Riester-Papst“ hochstilisierten Experten und damit über das mangelnde Verständnis ihrer eigenen beruflichen Materie. Die dadurch ausgelöste Verunsicherung der Verbraucher kritisiere ich. In diesem Sinne: Zeit für Veränderungen! Zeit für ein Umdenken.

Steckbrief Prof. Dr. Philipp Schade:

  • Diplom-Wirtschaftsmathematiker und Aktuar (DAV).
  • Promotion im Fachgebiet Operations Research der TU Dortmund.
  • Lehrtätigkeiten an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und der Fakultät für Mathematik der TU Dortmund.
  • Professur für Mathematik, Statistik und Wirtschaftsinformatik an der EBZ Business School, Bochum.
  • Gesellschafter-Geschäftsführer der MSS GmbH & Co. KG sowie Vorstand der phi-Versorgungskasse e. V.
  • Verantwortlich für: Bereich Aktuariat und Leiter der Verwaltungszentrale (Rechenzentrum) in Dortmund.

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