Am 08. Februar 2012 sollte der Bundesgerichtshof über einen Rechtsstreit verhandeln, dessen Ausgang die Assekuranz mit Interesse verfolgte: Im Mittelpunkt stand die Frage, ob sich ein enttäuschter Versicherungsnehmer auf sogenannte „unverbindliche Musterrechnungen“ berufen kann, mit denen Anbieter und Vermittler ihre Produkte bewerben. Eine Kundin hatte den britischen Versicherer Clerical Medical verklagt, weil ihre Ausschüttung aus einer Lebensversicherung deutlich niedriger ausfiel als es die Musterrechnung des Versicherungsanbieters versprach. Doch wie die Financial Times Deutschland am heutigen Mittwoch berichtet, will die Clerical Medical nun der Kundin eine hohe Schadensersatzsumme von bis zu 254.000 Euro zubilligen und so einen Richterspruch verhindern.

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Clerical Medical scheut das Grundsatzurteil – und hat damit möglicherweise die Branche vor immensen Schadensersatzforderungen bewahrt. Nach Informationen der Financial Times hätte die Versicherungsbranche mit einer Klagewelle rechnen müssen, falls das Urteil zugunsten der Klägerin ausgefallen wäre. Seit Jahren kritisieren Juristen und Verbraucherschützer, dass die Assekuranz wichtige Grundsatzurteile verhindert und Streitfälle nicht bis zu den höchsten richterlichen Instanzen vertritt. Man will im Einzelfall entscheiden und sich dabei einen gewissen Spielraum erhalten - Unliebsame Grundsatzurteile könnten hingegen zum Nachteil der Versicherungswirtschaft ausfallen.

Musterrechnung des Versicherers versprach Gewinn, die Kundin machte Verluste

Im verhandelten Rechtsstreit hatte eine Frau im Jahr 2002 eine Lebensversicherung gegen einen Einmalbetrag von 247.500 Euro abgeschlossen, den sie mit einem hoch verzinsten Kredit einer Bank finanzierte. Immerhin 6,5 Prozent Zinsen musste die Klägerin für ihren Bankkredit aufwenden – Laut Versicherer kein Problem, die Musterrechnung versprach der Frau einen weitaus höheren Gewinn aus ihrer Lebensversicherung. Versprochen waren der Kundin ein jährlicher Wertzuwachs von 8.5 Prozent, regelmäßige Ausschüttungen aus den angeschlossenen Fonds des Versicherers sowie ein hoher Einmalbetrag von 254.000 Euro zum 01. März 2012. Sowohl die Lebensversicherung als auch der Bankkredit wurden vom selben Vermittler empfohlen.

Doch für die Kundin entpuppte sich der Deal als Verlustgeschäft. Die Fonds warfen in den ersten Jahren nur 1,5 bzw. 3 Prozent Zinsen ab, so dass Clerical Medical weitaus weniger Geld ausschüttete als versprochen. Auch der Schlussgewinn wurde von dem Versicherungsanbieter deutlich nach unten korrigiert. Die Versicherungsnehmerin machte Verluste: Dabei hatte ihr der Vermittler zugesichert, dass sie mindestens ihr investiertes Geld zurückerhält. Letztendlich entschied sich die Frau, gegen den Versicherer zu klagen.

Experten erwarteten Grundsatzurteil zur Verbindlichkeit von Musterrechnungen

Dass bei dem Rechtsstreit mehr auf dem Spiel stand als die geforderte Schadensersatzsumme von 254.000 Euro, daran lassen Juristen keinen Zweifel. Das Grundsatzurteil hätte die gesamte Versicherungsbranche möglicherweise zu größerer Vorsicht beim Umgang mit Musterrechnungen verpflichtet. „Es geht hier um nicht weniger als die Frage, ob sich Kunden auf Musterrechnungen verlassen können oder nicht“, sagte Herbert Palmberger von der Düsseldorfer Kanzlei Heuking Kühn gegenüber der Financial Times. Der Jurist vertritt derzeit mehrere Kläger in ähnlichen Fällen. Auch eine Signalwirkung wäre von dem Urteil ausgegangen: Wenn die Modellrechnungen der Versicherer zu optimistisch ausfallen, hätten Kunden mit Verweis auf das Urteil zukünftig gute Chancen auf Schadensersatz gehabt.

Speziell im Geschäft mit Lebensversicherungen wäre eine Klagewelle von geschädigten Kunden zu erwarten gewesen. Hier gehen die Prognosen der Musterberechnungen auf eine Zeit zurück, als die Branche boomte und deutliche Gewinnzuwächse erwartete. Viele Kunden hatten sich von Anbietern und Vermittlern zu riskanten Geschäften mit hohen Einmalbeträgen überreden lassen – jetzt, da das Niedrigzinsniveau und ein schleppendes Neugeschäft die Bilanzen der Lebensversicherer belasten, müssen die Kunden teils herbe Verluste in Kauf nehmen.

Die Branche beeilt sich deshalb zu betonen, dass es sich bei dem verhandelten Gerichtsstreit um einen Einzelfall handelt. Laut Clerical Medical ging es in erster Linie um die Frage, ob eine Versicherungsgesellschaft für die falschen Versprechen des Vermittlers haftet – in der Vorinstanz hatte bereits das Oberlandesgericht Dresden ähnlich geurteilt. Damals war der Frau ein Schadensersatz wegen fehlerhafter Aufklärung des Vermittlers zugesprochen worden, wobei betont wurde, dass der Versicherer für diese Falschberatung einstehen müsse (Gerichtsurteil vom 22. September 2010, Az: 7 U 1358/09).

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Und doch könnte die Verbindlichkeit der sogenannten „unverbindlichen Musterrechnungen“ zukünftig erneut zum Thema werden. Laut FTD sind allein gegen Clerical Medical hunderte weitere Klagen anhängig.

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