Nein, es war ganz sicher nicht im Sinne des Kunden, was jahrelang im Versicherungsvertrieb Usus gewesen ist: Zwischen 1995 und 2007 wurden hochkomplexe Lebensversicherungen nach dem sogenannten Policenmodell vermittelt. Das heißt stark vereinfacht, die Kunden erhielten sämtliche Unterlagen erst mit dem Versicherungsschein zugesendet. Zwar konnten die Verbraucher innerhalb einer bestimmten Frist den Vertrag widerrufen – aber ihre Rechte und Pflichten erfuhren sie erst, nachdem sie den Vertrag bereits unterzeichnet hatten. Millionen Lebensversicherungen fanden auf diesem Weg zu ihren Kunden.

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Versicherer verweigern Rückabwicklung der Verträge

So geht es nicht, befand auch der Bundesgerichtshof, und hat im Jahr 2008 allen Versicherern den Vertrieb nach dem Policenmodell untersagt. Doch damit nicht genug. Wenn der Kunde nachweisen kann, dass er fehlerhaft oder nicht ausreichend über den Vertrag informiert wurde, kann er auch heute noch den Vertrag widerrufen und eine Rückabwicklung verlangen. Das bestätigte der BGH mit zwei Urteilen von 2014 und 2015 (Az. BGH IV ZR 76/11, BGH IV ZR 384/14).

Für die Versicherer ist das eine milliardenschwere Bürde – schlimmstenfalls sind Millionen Policen betroffen. Ungefähr jeder zweite Kunde könne auf erfolgreiche Rückabwicklung hoffen, so schätzt der Bund der Versicherten (BdV) auf Basis einer eigenen Stichprobe. Die Lebensversicherer aber weigern sich schlicht, den Widerruf der Verträge zu akzeptieren, klagen nun die „Marktwächter Finanzen“. Die bei den Verbraucherzentralen angesiedelte Organisation soll im Auftrag des Verbraucherschutzministeriums als Frühwarnsystem gegen Missstände im Finanzsektor wirken.

Versicherer berufen sich auf Verfassungsklage – die zurückgezogen wurde?

Wie das Versicherungsmagazin berichtet, haben sich die Marktwächter Finanzen mit einem Schreiben bei der Verbraucherzentrale Hamburg über das Vorgehen der Versicherer beschwert. Die Versicherer würden eine Rückabwicklung der entsprechenden Verträge schlicht ablehnen – und sich dabei auf eine Verfassungsbeschwerde der Allianz gegen die Rechtsprechung des BGH berufen. Eine Beschwerde, die gar nicht mehr anhängig ist?

„Entsprechende Briefe liegen uns bislang von fünf verschiedenen Versicherern vor: Sie stammen von Aachen Münchener, Ergo, Victoria, Generali sowie der Provinzial Rheinland“, berichten die Marktwächter. „Bei Generali, aber inzwischen auch bei Aachen Münchener und Ergo können wir anhand des Briefdatums erkennen, dass diese Schreiben auch dann noch verschickt wurden, als die Allianz ihre Verfassungsbeschwerde bereits öffentlich zurückgezogen hatte.“

Werden also Kunden bewusst getäuscht? Mitnichten, sagen die Versicherer. Nach Aussage der Generali haben weitere Versicherungsunternehmen Verfassungsbeschwerde gegen die Rechtsprechung des BGH eingelegt. Sie beklagen unter anderem einen Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung, welches im Grundgesetz garantiert ist. „Im Ergebnis erklärt der BGH ein viele Jahre geltendes deutsches Bundesgesetz rückwirkend für unanwendbar“, klagt die Generali laut Versicherungsmagazin. Auf ebenjene Beschwerden würden sich die Versicherer nun berufen, wenn sie die Rückabwicklung aussetzen – ähnlich argumentiert auch der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV).

Verbraucherzentrale Hamburg veröffentlicht Marktwächter-Warnung

Ob das Vorgehen der Versicherer rechtens ist, soll nun genau geprüft werden. Die Verbraucherzentrale Hamburg hat eine Marktwächterwarnung herausgegeben. Mit einer solchen Warnung sollen zukünftig unlautere Praktiken von Finanzanbietern öffentlich gemacht werden. Und auch die deutsche Finanzaufsichtsbehörde BaFin ist eingeschaltet. Sie ermittle bereits selbst in dem Sachverhalt, ließ die BaFin wissen.

Marktwächter Finanzen - Frühwarnsystem aus Sicht der Verbraucher?

Die "Marktwächter Finanzen" sind ein seit 2015 etabliertes Projekt, mit dem der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) und die Verbraucherzentralen den Markt aus Sicht der Verbraucher überwachen sollen. Das Frühwarnsystem wird von der Bundesregierung mit 17 Millionen Euro bis Ende 2017 unterstützt. Die Verbraucherzentralen sollen nicht nur Prospekte von Finanzprodukten prüfen, sondern auch Risiken von Geldanlagen einschätzen und bewerten. Quelle für die Marktbeobachtung sind Anfragen und Beschwerden der Verbraucher, die sich an die Verbraucherschützer wenden.

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Doch das Projekt ist umstritten. Wer haftet etwa, wenn die Marktwächter zu Unrecht vor einem Finanzanbieter oder Produkt warnen? Welche Expertise bringen die neuen Aufseher mit? Werden Verbraucher zu stark in ihren Entscheidungen beeinflusst, wenn die Marktwächter etwa vor riskanten Geldanlagen warnen? Alle diese Fragen sind noch ungeklärt - und könnten zukünftig für Ärger und lange Rechtsstreitigkeiten sorgen. Der Streit mit den Lebensversicherern ist ein erstes Indiz hierfür.

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