Aus aktuarieller Sicht ist das Kriterium Geschlecht für die Bewertung von Versicherungs- und Versorgungsverträgen ein wichtiger objektiv und risikospezifisch differenzierender Faktor. Es ist nicht Aufgabe des Aktuars zu beurteilen, ob mit der Differenzierung nach dem Geschlecht, also der Anwendung unterschiedlicher Faktoren für Mann und Frau, eine „Übergenauigkeit“ in der Bewertung erzielt wird oder bei einem Verzicht auf die Differenzierung die Nachteile von der einen oder anderen Vertragsseite als zu groß angesehen werden. Nach dem Geschlecht nicht differenzierende Unisex-Faktoren und -Tafeln sind verfügbar oder können hergestellt werden und geben Auskunft über derartige Vor- und Nachteile. Doch sehen die Aktuare derzeit keine Möglichkeiten, Statistiken für möglicherweise gegebene anderweitige Risikomerkmale bei Männern und Frauen zu entwickeln, die deren Unterschiede in der Sterblichkeit und der Krankheits-, der Pflegefall- oder der Berufsunfähigkeitswahrscheinlichkeit mehr oder weniger und auf Dauer kompensieren könnten.

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Daher bedeute die Anwendung geschlechtsunabhängiger Faktoren den Verzicht auf Genauigkeit in der Bewertung von Versicherungs- und Versorgungsverträgen. Gleiche Leistungen für gleiche Beiträge sind dann in der Regel nur zum Vor- oder Nachteil der einen oder anderen Seite zu haben.

Die Konsequenzen der geschlechtsunabhängigen Kalkulation werden insbesondere in der Personenversicherung zum Teil beträchtlich sein: „Gewinnern“ stehen „Verlierer“ gegenüber und insgesamt wird es teurer werden, teilt die Deutsche Aktuarvereinigung mit. Gesellschafts- und sozialpolitisch werde der Versorgungsgrad der Bevölkerung mit sicheren lebenslangen Altersvorsorgeprodukten sinken, die dritte Säule der Altersvorsorge könnte insgesamt schwächer werden. Und dies angesichts ohnehin zu befürchtender Altersarmut und einer mittelfristig unumkehrbaren demografischen Entwicklung.

Auswirkungen auf private Vertragsverhältnisse und die einzelnen Versicherungssparten:

1. Private Rentenvereinbarungen
Weit verbreitet ist die Anwendung von nach dem Geschlecht differenzierenden Sterbetafeln im Bereich von privaten Rentenvereinbarungen wie Kaufpreisrenten, Nutzungs- und Niesbrauchsrechten oder testamentarischen Verfügungen. Hier wird der Wert eines bestimmten Erwerbs- oder Veräußerungsgegenstandes, zum Beispiel einer Immobilie, umgewandelt in eine an das Erleben des Vertragspartners gebundene lebenslängliche oder auch zeitlich befristete Rentenzahlung.

Auch wenn das EuGH-Urteil nicht unmittelbar auf derartige Vertragstypen anzuwenden sein mag, wird deutlich, welche Konsequenzen sich im Bereich von Rentenvereinbarungen ergeben könnten: Geschlechtsspezifisch würde sich z.B. bei einem Kaufpreis von 100.000 Euro für einen Mann eine monatliche Rente von 702,64 Euro ergeben, bei einer Frau wären es wegen der längeren Lebenserwartung 615,89 Euro. Die geschlechtsunabhängige Berechnung auf der Basis eines Durchschnittswerts der Lebenserwartung von Männern und Frauen ergäbe eine monatliche Rente von 659,27 Euro – der Mann bekäme also eine deutlich geringere Rente, die Frau eine deutlich höhere.

Werden sich Männer noch auf ein solches Geschäft einlassen? Die Folgen dieser Veränderungen sind nicht absehbar und bleiben letztlich den Vertragspartnern überlassen. Je nach Lösungsweg wäre jedoch das Ziel lebenslanger Versorgung und Absicherung, das mit derartigen Rentenvereinbarungen in der Regel verbunden wird, nicht mehr zu realisieren.

2. Lebensversicherungsverträge

In der Lebensversicherung erfordert das EuGH-Urteil zur Unisex-Kalkulation die Ableitung neuer Risikomerkmale und damit die Neukalkulation der Tarife für das Neugeschäft. Vermutlich müssen entsprechende Sicherheitszuschläge berücksichtigt werden. Erfahrungen und aktuarielles Wissen zur geschlechts-unabhängigen Kalkulation liegen bei Riester-Rentenversicherungen und Restschuldversicherungen bereits vor.

Die Auswirkungen der geschlechtsunabhängigen Kalkulation werden bei bestimmten Produkten gravierend sein:

a) Rentenversicherungen

Bei privaten Rentenversicherungen werden sich die Beiträge spürbar verändern. Dabei werden für eine gegebene Versicherungsleistung Männer mehr und Frauen weniger bezahlen als bisher. Daher ist zu vermuten, dass zukünftig weniger Männer eine Rentenversicherung abschließen. Denn Rentenversicherungen erscheinen nun im Vergleich zu Sparprodukten ohne biometrische Komponenten weniger attraktiv, insbesondere wenn die eigene Lebenserwartung als eher geringer angesehen wird. Dadurch würde der Anteil der Frauen im Versichertenkollektiv steigen, die Unisex-Tafeln würden sich den aktuellen „Frauen-Tafeln“ entsprechend angleichen. Der Ausweicheffekt würde weiter verstärkt und in Folge dieser Entwicklung wären weitere Preissteigerungen für Männer zu erwarten.

Insgesamt wird sich die Verwendung von Unisex-Tafeln bei Rentenversicherungen der so genannten 3. Schicht folglich anders auswirken als bei Riester-Rentenversicherungen. Denn bei diesen werden ungünstige Beitragsverschiebungen durch die staatliche Förderung überkompensiert.

b) Risikolebensversicherungen

Auch bei Risikolebensversicherungen wird es zu durchaus größeren Beitragsveränderungen kommen. Dabei werden sich Preissenkungen für Männer und Preiserhöhungen für Frauen ergeben. Der Preis wird aber im Verhältnis zur Versicherungssumme eher gering bleiben. Daher ist davon auszugehen, dass sich der Versorgungsgrad der Bevölkerung mit diesem wichtigen Produkt nicht ändern wird.

c) Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsversicherung

Hauptdifferenzierungsmerkmal der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsversicherungen ist der versicherte Beruf. Die Kalkulation mit Unisex-Tafeln wird daher nur zu eher mäßigen Preisveränderungen führen.

3. Private Kranken- und Pflegeversicherung

a) Private Krankenversicherung
In der privaten Krankenversicherung werden die Rechnungsgrundlagen Kopfschaden, Sterblichkeit und Storno geschlechtsabhängig ermittelt und zur Prämienkalkulation verwendet. Dabei ist der Einfluss des Kopfschadens deutlich stärker als der Einfluss der Sterblichkeit. Die Kopfschadenprofile der Männer sind wesentlich steiler als die der Frauen: In jungen Jahren sind die Kopfschäden der Männer niedriger, im Alter höher als bei Frauen. Deshalb sind in einem typischen Kompakttarif derzeit die Neuzugangsbeiträge für Männer bis etwa Mitte 50 niedriger als für Frauen, danach sind sie für Frauen günstiger. Dieser Effekt gilt mit einigen Lebensjahren Verzögerung auch für die Bestandsbeiträge. Die direkte Umsetzung des EuGH-Urteils würde damit für die Hauptzugangsalter in der PKV die Männerbeiträge verteuern und die Frauenbeiträge ermäßigen.

Dem stehen jedoch die im Sinne des Verbraucherschutzes erfolgten Reglementierungen der nach Art der Lebensversicherung kalkulierten Krankenversicherung und der privaten Krankheitskostenvollversicherung entgegen. So dürfen nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz (§ 12 Abs. 4 Satz 2) die Prämien für das Neugeschäft nicht niedriger sein als die Prämien, die sich im Altbestand für gleichaltrige Versicherte ohne Berücksichtigung ihrer Altersrückstellung ergeben würden. Auch eine Streichung dieser VAG-Regelung würde nicht weiter helfen. Denn nach § 204 des Versicherungsvertragsgesetzes kann der Versicherungsnehmer vom Versicherer verlangen, auf Tarife mit gleichartigem Versicherungsschutz umzusteigen. Dies bedeutet, dass jeder Bestandsversicherte aus dem konventionellen Tarif in einen Unisex-Tarif wechseln kann. Das würden in einem ersten Schritt viele von denen tun, deren Beitrag sich dadurch reduzieren würde: Sehr viele junge Frauen und in einem geringeren Umfang ältere Männer. Damit wäre ein Unisex-Tarif, der anhand des heutigen Bestandsmix von Männern und Frauen kalkuliert würde, von vorneherein unterkalkuliert. Der Bedarfsbeitrag würde sofort ganz dicht am heutigen Frauenbeitrag für junge und am heutigen Männerbeitrag für alte Versicherte liegen – und das lange Zeit, bis der Bestand durch den Neuzugang überlagert würde.

Da die Versicherungsunternehmen gemäß VAG (§ 12 b Abs. 2 Satz 4) die Beiträge nicht anpassen dürfen, wenn die Versicherungsleistungen „unzureichend kalkuliert waren und ein ordentlicher und gewissenhafter Aktuar dies hätte erkennen müssen“, müsste schon bei Einführung des Unisex-Tarifs der jeweilige Höchstbeitrag kalkuliert werden. Dann würden die sonst zu erwartenden Bestandswechsel ausbleiben, bei der nächsten Beitragsanpassung müsste der Unisex-Tarif gesenkt werden. Erst danach würde langsam der erwartete Bestandswechsel einsetzen mit der Folge einer erneuten Verteuerung des Tarifs.

Bei der Umsetzung des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahr 2007 wurde ein Weg gefunden, um solche Verwerfungen zu vermeiden. Damals mussten die PKV-Unternehmen für neue Verträge die Kosten wegen Mutterschutz und Schwangerschaft auf beide Geschlechter verteilen. Diese Umverteilung wurde per Gesetz auch für den Versichertenbestand vorgenommen. Bei Männern führte dies zu einer Beitragserhöhung von 1-2 Prozent bei Frauen zu einer entsprechenden Senkung. Würde dieser Weg auch jetzt beschritten, so hätte dies allerdings erheblich fühlbarere Auswirkungen. Beitragserhöhungen im Bestand bei jungen Männern von über 10 Prozent, vor allem aber bei älteren Frauen in teilweise noch größerem Umfang wären die Folge.

Damit ergäben sich für ältere Frauen und junge Männer große Probleme: Wie wäre es zu beurteilen, wenn der Gesetzgeber ohne zwingende Anweisung des EuGH mit Berufung auf den Gleichbehandlungsgrundsatz einer 80-jährigen Frau, die den größten Teil ihres Lebens den teureren Frauenbeitrag zahlen musste und erst seit wenigen Jahren günstiger gestellt ist als ein gleichaltriger Mann, jetzt eine 15%ige oder noch höhere Beitragserhöhung verordnet?

Wie wäre es zu sehen, dass ein junger Mann, der sich vor fünf Jahren für einen PKV-Schutz entschieden hat, jetzt neben den allgemeinen Beitragssteigerungen aufgrund der Kostenentwicklung auch noch eine vom Gesetzgeber verordnete Unisex-Erhöhung um 10 Prozent zu zahlen hat – und zwar für viele Jahre? Und das wegen der allgemeinen Pflicht zur Versicherung ohne die Möglichkeit, den Versicherungsschutz ganz zu kündigen.

b) Private Pflegeversicherung

In der privaten Pflegepflichtversicherung sind aufgrund der gesetzlichen Vorgaben die Zahlbeiträge von Anfang an geschlechtsunabhängig. Hier besteht also kein Änderungsbedarf.

4. Betriebliche Altersversorgung

a) Auswirkungen des Urteils auf die vom Aktuar verwendeten bzw. künftig zu verwendenden Kalkulationsgrundlagen

Betroffen sind in erster Linie beitragsorientierte Leistungszusagen, soweit diese bisher bei der Transformation von Beiträgen in Leistungen nach dem Geschlecht differenzieren. Betroffen wären aber auch Leistungszusagen und Beitragszusagen mit Mindestleistungen, wenn im Falle von Kapitalisierung oder Verrentung auf das Geschlecht der Berechtigten abgestellt wird. Dazu gehören insbesondere die gesetzlich geregelten Themenfelder Portabilität und Versorgungsausgleich. Vom Arbeitnehmer finanzierte betriebliche Versorgungsansprüche sind, wenn sie bei gleichem Beitrag unterschiedliche Leistungen vorsehen oder umgekehrt, mit einer geschlechtsabhängigen Kalkulation gerechnet. Die geschlechtsunabhängige Transformation von Beiträgen und Leistungen stellt versicherungsmathematisch kein Problem dar: Entweder werden Rechnungsgrundlagen verwendet, die auf das jeweilige Kollektiv ohne Differenzierung nach dem Geschlecht als geeignet angesehen werden können, oder die Kalkulation erfolgt zunächst mit geschlechtsabhängigen Faktoren, die dann geeignet gewichtet werden. Die Umstellung bestehender Systeme für Neuzugänge führt zu einer gewissen Umverteilung für die Berechtigten bzw. zur Übernahme des „Gewichtungsrisikos“ durch den Versorgungsträger. Eine aufwandneutrale Gestaltung für den Versorgungsträger ist jedoch auch möglich, geht aber in der Regel zu Lasten der Arbeitnehmer.

b) Auswirkungen auf die Preise

Die geschlechtsunabhängige Kalkulation ergibt bei Entgeltumwandlungen, soweit die Leistungen auf Alters- und Invalidenrenten beschränkt sind, Preissteigerungen für Männer und damit eine geringere Attraktivität.

Für die Anbieter von betrieblicher Altersvorsorge stellt sich ein zusätzliches Risiko in der Kalkulation, da die Zusammensetzung der Bestände nach Geschlechtern vorab zu kalkulieren und diese Kalkulation mit entsprechenden Risiken verbunden ist. Bei einer Änderung in der Zusammensetzung müssen die Prämien angepasst werden. Hier wird zu prüfen sein, ob dafür ein zusätzlicher Sicherheitszuschlag erforderlich ist.

c) Auswirkungen auf die Unternehmen

Beim Anbieter entstehen aufgrund der zusätzlichen Untersuchungen und der zusätzlichen Risiken grundsätzlich zusätzliche Aufwendungen.

d) Auswirkungen auf den Markt

Betriebliche Altersversorgung wird insgesamt teurer werden. Bei arbeitgeberfinanzierten Zusagen werden die Arbeitgeber prüfen, ob die zusätzlichen Kosten getragen werden können oder ob an anderer Stelle Einsparungen möglich sind. Bei arbeitnehmerfinanzierten Leistungen entsteht durch Unisex zusätzlicher Aufwand, der vom Beitragszahler oder Leistungsempfänger zu tragen ist – in beiden Fällen also vom Arbeitnehmer.

5. Schaden- und Unfallversicherung

In der Schaden- und Unfallversicherung gibt es nur in der Unfall- und Kraftfahrtversicherung Produkte mit personenbezogenen Risikomerkmalen. In der Unfallversicherung werden die Frauen heute pauschal der geringsten Gefahrengruppe zugeordnet. Bei einer neuen Zuordnung nach den geschlechtsunabhängigen Merkmalen wird sich für die Geschlechter keine spürbare Auswirkung ergeben. Das gilt ebenso für den Spezialfall der Unfallversicherung mit Beitragsrückerstattung, da die Biometrie hier insgesamt einen geringen Einfluss hat und damit die Geschlechterspezifizierung entsprechend noch geringer wirken wird.

In der Kraftfahrtversicherung wird das Geschlecht im wesentlichen nur beim überragenden Merkmal Alter und Fahrerfahrung als weitere Differenzierung herangezogen, wobei dabei derzeit vor allem junge Frauen bis zum Alter von 23 Jahren bevorzugt werden. Die Aufgabe dieser Besserstellung ist für die Aktuare kalkulatorisch natürlich kein Problem. Die Marktpreise für die Gruppe der Fahrer unter 23 Jahren werden trotz extremen Wettbewerbsdrucks wohl im Durchschnitt leicht steigen, da die Mischung beider Geschlechter mit Unsicherheiten behaftet ist und dies im Preis berücksichtigt werden muss.

Längerfristige Folgen

Längerfristige gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Folgen können sich insbesondere durch die Verteuerung der Altersvorsorgeprodukte ergeben: Der Versorgungsgrad der Bevölkerung mit sicheren und lebenslang garantierten Altersvorsorgeprodukten könnte sinken. Auszahlungspläne von Banken sehen Leistungen nur für eine bestimmte Zeitperiode vor, und zwar auch dann, wenn der Kunde länger lebt. Nur Versicherungsprodukte bieten lebenslange Sicherheit.

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Angesichts der demografischen Entwicklung gibt es in Deutschland einen breiten Konsens, dass private eigenverantwortliche Vorsorge als dritte Säule der Altersversorgung nicht nur wünschenswert sondern unerlässlich ist. Eine Verteuerung der privaten Altersvorsorge würde die Gefahr von Altersarmut und in deren Folge einer weiteren Belastung der Sozialsysteme erhöhen. Deshalb sind Regierungen und Parlamente aufgerufen, dies bei der anstehenden Umsetzung der EuGH-Entscheidung zu berücksichtigen.

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