Im Jahr 2010 hat das Bundesverfassungsgericht die Regierung verpflichtet, den Hartz IV-Regelsatz neu zu bestimmen. Zu willkürlich schienen den Karlsruher Richtern die Berechnungen der Politik, die den früheren Betrag „ins Blaue hinein“ geschätzt hatten. Der Verdacht stand im Raum, dass die Schätzungen zum Nachteil der Sozialleistungsempfänger erfolgen und der Regelsatz das Existenzminimum nicht gewährleisten könne.

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Also wurden die Ministerialbeamten tätig und rechneten erneut. Sie bekamen in 2011 einen Eckregelsatz heraus, der den alten um lediglich 2,81 Euro übertraf. Die Erhöhung fiel deutlich niedriger aus als von Experten erwartet. Ist damit alles korrekt berechnet? Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung bestreitet dies. Die Regierung habe zwar die verfassungsrechtlich notwendigen Revisionen vorgenommen. Sie habe aber das Rechenverfahren an anderen Stellen derart verändert, dass den Korrekturen „systematisch entgegengewirkt“ wurde.

Es hätte 27 Euro mehr Hartz IV geben müssen

Nach Berechnungen der Verteilungsforscherin Dr. Irene Becker hätte der Hartz-IV-Eckregelsatz um 27 Euro steigen müssen – wenn das ursprüngliche Verfahren nur in den vom obersten Gericht beanstandeten Punkten modifiziert und ansonsten unverändert geblieben wäre. Demnach müsste der Regelsatz in diesem Jahr bei 407 Euro liegen, die gesetzlich vorgeschriebene Anpassung an Löhne und Preise mit eingerechnet. Es sind aber lediglich 382 Euro, die Sozialleistungsempfänger derzeit überwiesen bekommen. Laut Irene Becker stehe damit „aus gesellschaftspolitischen, möglicherweise unter juristischen Aspekten“ weiter infrage, ob die Höhe der Grundsicherung überhaupt ausreicht.

Wie aber kommt die Sozialforscherin zu der Aussage, der Hartz IV-Satz sei zu niedrig? Die Debatte entbrennt sich an der Frage, was ein Mensch zum Leben braucht. Dass bestimmte Leistungen aus dem Regelsatz herausgerechnet werden, ist bereits bekannt. Den Ausgangspunkt für die Regelsatzbestimmung bildeten die vom Statistischen Bundesamt (Destatis) zuletzt 2008 erhobenen monatlichen Lebenshaltungskosten von Haushaltstypen mit niedrigem Einkommen, ohne Wohn- und Heizkosten. Dabei werden von den statistisch ermittelten Werten eine Reihe von Einzelbeiträgen abgezogen, die der Gesetzgeber für „nicht regelsatzrelevant“ hält. Darunter fallen unter anderem Ausgaben für Benzin, Tabakwaren, Reisen oder Gastronomiebesuche.

Diese Negativliste hat der Gesetzgeber bei der Neuberechnung der Regelsätze in 2011 erweitert. Nun kamen weitere Abschläge bei der Bedarfsermittlung hinzu, etwa für Alkohol, Blumen und Zimmerpflanzen. Wirtschaftsforscherin Irene Becker errechnete, dass so die Regierung den Regelsatz um etwa 13 Euro nach unten drücken konnte.

Ärmere Einkommensgruppe für die Bedarfsermittlung herangezogen

Das Herausrechnen von Leistungen war aber nicht der einzige Trick, um den Hartz-IV-Regelsatz zu senken. Auch die Bezugsgruppe für die Berechnungen hat der Gesetzgeber geändert. Bei den Alleinstehenden zählten 2011 nicht mehr die unteren 20 Prozent, sondern nur noch die unteren 15 Prozent der Haushalte dazu. Real liegt die obere Einkommensgrenze der Referenzgruppe damit um rund 82 Euro niedriger.

Weil eine deutlich ärmere Gruppe nun für die Hartz-Berechnungen herangezogen wurde, verringerte sich der monatliche Regelsatz um weitere 11 Euro im Monat. Auch dies lasse sich als „neuartige freihändige, nicht fundierte Entscheidung des Gesetzgebers“ interpretieren, kritisiert die Wirtschaftswissenschaftlerin Becker. Der Verdacht liegt nahe, dass eine allzu deutliche Erhöhung des Regelsatzes durch die Änderungen vermieden werden sollte.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales muss Bericht zu Regelbedarfsermittlung vorlegen

Bis zum 01. Juli 2013 muss das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) dem Bundestag einen „Bericht über die Weiterentwicklung der für die Ermittlung von Regelbedarfen anzuwendenden Methodik“ vorlegen. Verpflichtet ist die Regierung dazu laut § 10 des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes. Ob der Hartz IV-Regelsatz im Jahr der Bundestagswahl erneut für Diskussionen sorgen wird, bleibt abzuwarten. Die jährlichen Mehrbelastungen für den Staatshaushalt würden sich auf einen dreistelligen Millionenbetrag summieren.

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Die Berechnungen sind Zwischenergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Das Grundsicherungsniveau: Ergebnis der Verteilungsentwicklung und normativer Setzungen“ von Irene Becker und Reinhard Schüssler. Mehr Informationen dazu gibt es auf der Webseite der Böckler-Stiftung.

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