Foto: Monika Lawrenz „Geburt ist keine Krankheit“, empfahl die Weltgesundheitsorganisation 1985. Fast dreißig Jahre später in Deutschland: Geburten werden zunehmend nicht nur als Krankheiten, sondern als Notfälle behandelt. Kein Wunder. Seit 2010 mussten 15-20 Prozent der Hebammen die Geburtshilfe aus finanziellen Gründen aufgeben. Laut einer Studie des Bundesgesundheitsministeriums hat sich dieser Trend fortgesetzt. Boten 2010 noch 25 Prozent der freiberuflichen Hebammen Geburtshilfe an, sind es in 2012 nur noch 21 Prozent. In einigen Regionen kann deshalb keine außerklinische Geburtshilfe mehr angeboten werden.

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Hohe Haftpflichtkosten gefährden Wahlfreiheit und Menschenwürde

Für Schwangere bedeutet das: Sie haben keine Wahl, wo sie entbinden. Damit verstößt Deutschland de facto gegen Artikel 8 der Menschenrechtskonvention, der Schwangeren ein Recht auf Wahlfreiheit einräumt. Auch in Kliniken werden Hebammenstellen gestrichen, um Personal einzusparen. Hier lasten die steigenden Haftpflichtprämien für Hebammen, Entbindungspfleger und Ärzte ebenfalls schwer auf dem Budget der Kliniken. Die Frauen müssen in der Konsequenz damit rechnen, während der Geburt allein gelassen zu werden, weil die Hebammen mehrere Gebärende gleichzeitig betreuen. Und Beleghebammen, die Frauen in 1:1-Betreuung in die Klinik begleiten könnten, sind nur noch schwer zu finden. Der Grund: Ihr Hauptaufgabenfeld ist finanziell unrentabel.

Zum 1. Juli 2013 ist die Prämie für die berufliche Haftpflichtversicherung der Mitglieder des Bundes freiberuflicher Hebammen Deutschlands (BfHD) nochmals um 10 Prozent gestiegen und beträgt nun 4.480 Euro im Jahr. Zum 1. Juli 2014 müssen auch die rund 18.000 Hebammen des Deutschen Hebammenverbands (DHV) mit einer Steigerung im zweistelligen Prozentbereich rechnen. „Wir beobachten, daß immer mehr Kolleginnen die Geburtshilfe aufgeben“, sagt Katharina Jeschke vom DHV. Sie schätzt, daß 2013 nochmal 5 bis 10 Prozent der freiberuflichen Hebammen aus der Geburtshilfe aussteigen werden.

Wenn es keine Hebammen mehr gäbe

Was aber würde es bedeuten, wenn es keine Hebammen mehr gäbe? Die Betreuung und Versorgungssituation für werdende Mütter würde sich deutlich verschlechtern:

  • 1. Eine Geburt würde nicht mehr so lange dauern dürfen, wie sie naturgemäß dauert. Denn Zeit ist Geld.

  • 2. Eine Hebamme betreut eine Frau: Undenkbar. Personal ist auch Geld. Schon jetzt sind 1:1-Betreuungen in Kliniken selten.

  • 3. "Natürliche Geburten" ohne Kaiserschnitt und Medikamente fänden überhaupt nicht mehr statt. Es sei denn, die Frau bekommt ihr Kind allein.

  • 4. Ohne außerklinische Geburtshilfe haben Schwangere keine Wahl, wo sie entbinden.

  • 5. Die Zahl der Geburten im PKW oder auf dem Rastplatz nähmen zu, weil die Wege zur nächsten Klinik zu weit sind.

  • 6. Um gebären zu können, schüttet die Frau Oxytocin und Endorphine aus. Das geschieht nur, wenn die Frau sich ruhig und sicher fühlt. Dauerüberwachung, wechselndes Personal und Apparatemedizin geben nicht jeder Frau das Gefühl, daß alles in Ordnung ist. Der gestreßte Körper schüttet nicht Oxytocin und Endorphine, sondern Adrenalin aus. Adrenalin fördert die Geburt nicht, sondern hemmt sie. In der Folge werden häufig Interventionen bis hin zu Notkaiserschnitten notwendig. Keine Hebammen – mehr Interventionen, mehr Notkaiserschnitte, mehr Wochenbettdepressionen. Und: Ungleich mehr Kosten!

  • 7. Die Frau hat Angst vor der Geburt? Ihr Kind trinkt nicht? Sie hat eine verhärtete Brust? Sie weiß nicht, was sie tun kann, wenn ihr Kind schreit? – Mit diesen Fragen bleibt sie allein.

Hebammen begleiten Mütter vor, während und nach der Geburt

Hebammen haben nicht nur das Können, sondern auch die gesetzliche Befugnis, physiologische Geburten eigenständig zu leiten. Den wenigsten ist das bekannt. Stattdessen irrlichtern Blaulichter durch die Köpfe, wenn sie eine Geburt zu visualisieren versuchen. Die Arbeit der Hebammen umfasst außerdem die gesamte Lebensphase von der Familienplanung bis zum Ende der Stillzeit. Das können zwei Jahre sein, in denen die Familien, insbesondere die Frauen, professionell betreut werden.

Auch das ist weitestgehend unbekannt: Nach der Geburt ist nicht Schluss. Frauen erleben eine tiefgreifende physiologische, hormonelle, psychische und soziale Veränderung – auch wenn das Wochenbett im gesellschaftlichen Gespräch kaum noch vorkommt, die Natur hat es nicht abgeschafft. Fehlende oder falsche Informationen über physiologische Geburtsverläufe führen in einer Gesellschaft, die Sicherheit für ein erreichbares Ziel hält, zu einem marktfähigen Zustand: Unsicherheit. Hebammen betonen die Kehrseite der Angst: das Vertrauen in die potenzielle Eigenständigkeit des Einzelnen und die Elemente des Lebens. Damit nimmt der Hebammenberuf eine verantwortungsvolle salutogenetische und prophylaktische Zwitterstellung im Gesundheitswesen ein.

Die Arbeit aller Entscheidungsträger muss deshalb darin bestehen, die Versorgung, Ausbildung und Autonomie der Hebammen zu sichern. Andernfalls nehmen sie billigend in Kauf, dass gesunde Menschen gezwungenermaßen in ein System überführt werden, das für Notfälle und Krankheiten errichtet worden ist und unter diesen Prämissen Wahrnehmung und Handlung erzeugt. Das ist sowohl finanziell als auch demokratisch bedenklich, so dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis Frauen und Familien reihenweise vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrecht ziehen, um Deutschland zu verklagen. In Ungarn ist das bereits geschehen. In Irland fahren Frauen bis zu 150 km in die nächste Klinik. Und in Schweden, dem einstigen Vorzeigeland, herrscht Hebammennotstand. Andererseits haben Länder wie Norwegen oder Schottland Lösungen gefunden und ihre hebammengeführte Geburtshilfe gesichert. Deutschland sollte nicht nur aufholen, sondern sich zu einem Vorbild für andere Länder entwickeln, in denen die Geburtshilfe bereits kollabiert ist.

Lösungsvorschläge sind vorhanden

Es ist nicht so, daß es keine Ansätze gäbe. In einer interministeriellen Facharbeitsgruppe stellen Vertreter von Hebammenverbänden und -Initiativen Konzepte vor, die mit Vertretern von Ministerien, dem GKV-Spitzenverband und GDV diskutiert werden. Der Deutschen Hebammen Zeitschrift zufolge werden etwa folgende Lösungsansätze diskutiert: Haftungshöchstgrenzen, Regressbegrenzung, Haftpflichtfonds, Versicherung pro Geburt, Wechsel des Versicherungsmodells. Doch aufgrund der stetig steigenden Kosten im Schadensfall und dem Fehlen eines Versicherungsmarktes ist es schwer, eine Lösung zu finden. Dennoch wird der Schwarze Peter noch immer hin und her geschoben. Aber die Sicherung des Hebammenwesens liegt nicht in der Verantwortung Einzelner. Es muss darum gehen, dass alle Beteiligten das Ihre dazu beitragen, um die Zukunft unserer Gesellschaft auf tragfähige Beine zu stellen.

Die Krankenversicherungen müssen höhere Vergütungen ausschütten. Da sie Gewinne in Milliardenhöhe erwirtschaften, müsste sich das im Rahmen des Möglichen bewegen, zumal sie damit auf lange Sicht in eine nachhaltige und kostengünstigere Geburtshilfe investieren und ihre Verschicherten bereits protestieren. Sollten die Verhandlungen schwierig sein, muss die Regierung vermitteln. Die neue Regierung muss sich außerdem der Haftpflichtproblematik und Ausbildung annehmen. Die Länder müssen eine flächendeckende Versorgung mit Hebammenhilfe gewährleisten. Medien, Kultur und Gesellschaft müssen informierend und aufklärend tätig werden. Es müssen viele Schritte aus vielen verschiedenen Richtungen getan werden, um sich an anderer Stelle wieder zu versammeln: an einem nicht messbaren Ziel mit Namen Menschenwürde.

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Anke Bastrop, 31, ist Autorin und Mutter von zwei Kinder. Sie hat die aktuelle Petition „Menschenwürde ist kein Ehrenamt – Hebammen brauchen höhere Vergütungen“ initiiert. Wer die Petition unterstützen will, kann hier unterschreiben.

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