Versicherungsbote: Gibt es Gemeinsamkeiten, die sowohl ein guter Bobfahrer als auch ein guter Versicherungs-Vorstand mitbringen müssen?

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Rainer M. Jacobus: (Lacht) Das ist eine sehr interessante Frage. Bobfahren ist eine Grenzerfahrung. Ich habe fünf- oder sechshundert Fahrten in Altenberg gemacht - auf der Bremse. Wenn Sie dort oben stehen, sind Sie schon voller Adrenalin.
Vielleicht ist das eine gute Gemeinsamkeit: Man muss vor der Aufgabe immer Respekt - aber nie Angst - haben - auch vor der Aufgabe als Versicherungsvorstand, gerade in diesen herausfordernden Zeiten. Sofern man das beherzigt, hat man beim Bobfahren einen unglaublich guten Adrenalinspiegel, wenn man da runter fährt. Als Versicherungsvorstand bekommt man ein gutes Maß, wie man auch schwierige Dinge angehen sollte: mit Respekt, aber ohne Angst.

Versicherungsbote: Und wie ist das mit dem Bremsen?

Auch da gibt es eine Parallele: Beim Bobfahren wird nur im Ziel gebremst - also hinter der Ziellinie. Wenn das Ziel erreicht ist, muss man auch mal innehalten, zurückblicken und checken: durch welche Kurve sind wir gut durchgekommen und wo sind wir angeeckt? Eben dieser Rückblick ist beim Bobfahren genauso wichtig wie im Job.

Versicherungsbote: Bei der Passions-Sportart Bobfahren gewinnt man schnell den Eindruck, dass unter den Bob-Athleten ein sehr familiäres Verhältnis herrscht. Was können denn die Großen von den Kleinen in der Versicherungswirtschaft lernen?

Bobfahren bedeutet tatsächlich, Teil einer Familie zu sein. Ich war jetzt wieder zur Weltmeisterschaft in St. Moritz. Das ist ja, wenn man so will, die Weihestätte des Bobsports. Dort gibt es die letzte Natur-Eisbahn, die jedes Jahr von einer Südtiroler Familie - ich glaube in vierter Generation - nur mit Wasser gebaut wird.
Eine solche Weltmeisterschaft ist immer ein großes Familientreffen. Das heißt: auf der Bahn geht es schon zur Sache. Aber außerhalb der Bahn weiß man: Wir sind eine kleine Community und da muss man sich gegenseitig helfen. Es ist unter Bobfahrern geradezu verpönt, dem anderen nicht zu helfen. Ob es beim Abladen des Bobs ist oder bei der Reparatur, wenn ein Schaden entstanden ist. Dieses Miteinander ist eine hervorstechende Eigenschaft beim Bobfahren.

Versicherungsbote: ...und die vermissen Sie in der Versicherungsbranche?

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Finde ich überhaupt nicht. In Deutschland gibt es etwa 80 Lebensversicherer und das ist ja auch ein kleines Dorf. Da ist auch wieder eine Parallele zum Bobsport. Die handelnden Personen kommen in der Regel hervorragend miteinander aus. Auch da gilt: im Ringen um Vertriebspartner oder draußen beim Kunden gibt es natürlich den Wettbewerb.
Aber jenseits der Konkurrenz haben wir alle einen ziemlich guten Draht zueinander. Es wird sich gegenseitig geholfen und es ist auch überhaupt kein Problem, jemanden anzurufen und zu sagen: ‚Ich habe folgenden Vorgang auf dem Tisch... Wie habt ihr das gelöst oder geregelt?’ Vielleicht wird da von außen auch zu viel hineininterpretiert.

„Ich wundere mich immer, dass wir so ein Nachwuchsproblem haben“

Versicherungsbote: Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Bobsport und Versicherungsbranche könnte das Nachwuchs-Problem sein. Ist das so?

Ich beginne mal mit dem Bobsport: Dort gibt es aktuell keine Nachwuchsprobleme. Wir rekrutieren unsere Sportler vorwiegend aus anderen Disziplinen. Das heißt, es ist keine Primär-Sportart. Sie können nicht mit drei Jahren anfangen, Bob zu fahren. Sie können mit drei Jahren anfangen, Ski zu fahren oder Langlauf zu machen oder zu rodeln.
Bobfahren geht frühestens ab 14 Jahren. Es handelt sich also um eine Sekundär-Sportart: Athleten müssen aus anderen Sportarten rekrutiert werden, beispielsweise aus der Leichtathletik. Gutes Beispiel dafür ist der Silbermedaillengewinner Nico Walther. Er war früher Rodler. Wir haben auch Leute, die beispielsweise aus dem Gewichtheben gekommen sind.
Es gibt also einen bunten Strauß an Sportarten, die dem Bobfahren so ein bisschen zuarbeiten. Es gibt auch Kooperationen mit Leichtathletik-Vereinen, um gemeinsam zukünftige Bob-Fahrerinnen und -Fahrer zu identifizieren, die vielleicht in der Leichtathletik nicht mehr weiterkommen. Und das ist, glaube ich, ein guter Ansatz.

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In der Versicherungsindustrie ist es vielleicht ähnlich. Ich bin seit meinem 19. Lebensjahr in der Branche tätig und sage immer wieder: die Versicherungswirtschaft ist mit die bunteste Branche, in der man sich tummeln kann. Da gibt es so viele Facetten: Bei den Rückversicherern arbeiten Meteorologen, Ärzte, Geologen - ...Hier bei uns im Immobilienbereich arbeiten Bau-Ingenieure…

Es ist ein breites und buntes Feld an beruflichen Herausforderungen. Und wir haben viele Kollegen, die aus anderen Branchen zu uns kommen. Ich habe es sehr oft gehört - ob in der Kantine oder auf Betriebsfesten - dass die Leute gesagt haben: ‚Wir haben uns die Versicherungsindustrie viel, viel langweiliger und blutleerer vorgestellt‘. Wir beschäftigen zum Beispiel Leute bei uns im Marketing, die kommen aus der Medienbranche oder der Hotellerie, und ich könnte noch viele weitere Beispiele nennen.

Ich wundere mich immer, dass wir so ein Nachwuchsproblem haben. Wenn die Leute erstmal bei uns sind, erkennen sie sehr rasch, wie vielfältig doch die Aufgabenfülle bei einem Versicherer ist.
Offensichtlich haben wir immer noch mit einem massiven Imageproblem zu kämpfen. Dabei gilt es, folgenden Gegensatz zu überwinden: 80 bis 85 Prozent der Bevölkerung finden ihren eigenen Vermittler gut; haben aber keine hohe Meinung von der Versicherungsindustrie. Da gibt es noch einiges zu tun. Ich arbeite seit 1982 in der Branche, habe die Entwicklungen seither verfolgt und meine schon, dass wir deutliche Fortschritte in Sachen Außendarstellung und Image gemacht haben.

Kurven, die in Erinnerung bleiben

Versicherungsbote: Sie sind jetzt bereits über 40 Jahre in der Branche. Wenn wir kurz beim Eiskanal bleiben und uns vorstellen, dass die Kurven beispielsweise ‚Vermittlerrichtlinie‘ oder ‚Solvency‘ heißen... Welche dieser Kurven bleibt Ihnen besonders in Erinnerung?

Das ist nicht nicht ganz einfach zu beantworten. Ich denke, wir sollten über drei Punkte reden. Der erste ist: Ich habe hier am 1.9.2001 als Vorstand angefangen, wir hatten damals eine Bilanzsumme, die lag bei 500 Millionen Euro. Dieses Jahr werden wir eine Bilanzsumme bei etwa 8 Milliarden Euro haben.
Am 1. September 2001 war mein erster Arbeitstag und am 11. September 2001 fielen die Kurse innerhalb von Minuten lotrecht nach unten. Auch hier über Berlin flog damals eine Armada Jagdflugzeuge, um den Luftraum zu sichern. Alle Welt dachte damals, nachdem, was in New York und Washington passiert ist, dass als Nächstes europäische Hauptstädte ins Visier genommen werden. Man ging von einem großen Angriff auf die westliche Zivilisation aus. Ich war gerade zehn Tage im Amt und das war eine ziemlich beklemmende Situation, sowohl, was die Kapitalanlage anging, aber auch das, was draußen passiert ist. Anschließend kam es zu der damit indirekt verbundenen Gründung von Protektor.

Ich glaube, ich bin jetzt der dienstälteste CEO eines deutschen Versicherungsunternehmens. Damals, als ganz junger Vorstand, habe ich live miterlebt, wie die Mannheimer Lebensversicherung in die Sicherungseinrichtung eingebracht werden musste. Ich war bei allen Sitzungen live dabei und das war eine sehr einschneidende Erfahrung, weil man nie gedacht hätte, dass so eine existenzgefährdende Situation einen deutschen Lebensversicherer treffen kann.

Der zweite Punkt, der natürlich sehr heftig war, war die Finanzmarktkrise 2008. Darauf folgte auch Punkt drei: die sich daran anschließende langandauernde Niedrigzinsphase. Man darf ja nicht vergessen, wir haben ja praktisch von 2008/2009 bis Mitte 2022 eine Nullzinsphase gehabt, gleichbedeutend mit einem recht zügigen Abflauen der Zinsen.

Dabei ist der Zins das ‚Schmiermittel‘ der gesamten Wirtschaft und mindestens ein Jahrhundert lang waren Zinstitel das Futter der Kapitalanlage in der Lebensversicherung. Die Probleme in der Kapitalanlage haben sich potenziert. Das war keine Situation, in der man sagen konnte: ‚Na gut, dann machen wir eben etwas anderes‘. 85 bis 90 Prozent der Kapitalanlagen warten festverzinsliche Wertpapiere - und wenn die plötzlich keinen Coupon mehr zeigen, dann steht das Geschäftsmodell in Frage. Vor allem, wenn im Unterschied zu den angelsächsischen Ländern stark auf Klassik - also auf die Lebensversicherung mit Deckungsstock - gesetzt wurde. Das ist ein massiver Unterschied zu allen Produkten, die fondsgebunden sind. Und solche haben in anglo-amerikanischen Märkten traditionell schon immer ein Übergewicht.

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Das waren die drei wichtigsten Punkte. Solvency II war natürlich auch eine Zäsur. Die habe ich aber gar nicht so stark empfunden, weil wir Teile dieses neuen Aufsichtsregimes schon proaktiv eingeführt hatten, zum Beispiel das Thema Risikomanagement, da waren wir schon sehr weit, bevor Solvency II eingeführt worden ist.

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