Unter Babyboomern herrscht eine „ausgeprägte Kultur des Frühausstiegs“, fasst Prof. Martin Hasselhorn zusammen. Hasselhorn hat den Lehrstuhl für Arbeitswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal inne und ist gemeinsam mit Melanie Ebener und Nina Garthe Autor der Studie „lidA - leben in der Arbeit“. Seit 2009 untersucht die Kohortenstudie das Themenfeld ‚Arbeit, Alter, Gesundheit und Erwerbsteilhabe‘ in Deutschland. Nun liegen erste Ergebnisse aus der Befragungswelle 2022/23 vor.

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„Unabhängig von den gesetzlichen Regelungen zur Rente, bis zu welchem Alter würden Sie gerne arbeiten?“ So lautete eine Fragestellung in der Studie. Die Antworten fielen eindeutig aus: Nur die wenigsten möchten bis zur regulären Altersgrenze arbeiten (siehe Grafik).

Studie „lidA - leben in der Arbeit“

Selbst ein Arbeiten über das 64. Lebensjahr hinaus kann sich nur eine Minderheit vorstellen. Beim ältesten Jahrgang fällt dieser Anteil mit 42 % höher aus als bei den beiden jüngeren, heißt es in der Studien-Broschüre, die am 21. Juni veröffentlicht wurde. Die vollständigen Studienergebnisse werden im Herbst diesen Jahres vorliegen.

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Die Grafik zeigt auch, dass der Wunsch bis zum 60. Lebensjahr zu arbeiten, bei den Jahrgängen 1965 und 1971 ausgeprägter als beim Jahrgang 1959 ist. „Der frühe Erwerbsausstieg ist die Norm und viele Personen, die 63, 64 oder 65 Jahre alt sind und noch in Arbeit stehen, kennen es, dass man sie ganz erstaunt fragt: Was, du arbeitest noch“, so Hasselhorn gegenüber dem ARD-Politmagazin Panorama, das heute einen Beitrag zu dem Thema sendet.

Wunsch nach Frühverrentung vs Finanzierbarkeit

Mit 84 Prozent der Nennungen dominiert der Wunsch nach mehr Freizeit die Gründe für den Wunsch nach einem vorzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben (siehe Grafik 2). Der Trend zur Frühverrentung ist laut Studien-Ergebnissen unabhängig davon, wie stark die körperliche Belastung im Job gewesen sei.


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Am längsten wollen laut Studie jene Menschen arbeiten, deren Einkommen am niedrigsten ist. Im Vorbericht zur Panorama-Sendung schreibt die Tagesschau deshalb: „In diesem Fall ist das längere Arbeiten offenbar eher ein ‚länger arbeiten müssen‘.“

Erst vor kurzem ermittelte eine Erhebung der Bertelsmann-Stiftung, dass aus der Gruppe der Berufstätigen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status überdurchschnittlich viele (41 %) vorzeitig in Rente gehen wollen.

Wunsch nach Frühverrentung vs Finanzierbarkeit

Der ausgeprägte Wunsch nach Frühverrentung steht im krassen Gegensatz zu Forderungen von Ökonomen. So plädierte etwa der Wirtschaftsweise Martin Werding dafür, die Abschläge für Frührentner zu erhöhen. Damit sollten Anreize für eine längere Lebensarbeitszeit gesetzt werden. In Deutschland liegen die Abschläge bei 3,6 Prozent je Jahr eines früheren Renteneintritts. „In Ländern, die genauer rechnen, betragen sie eher fünf oder sechs Prozent. Daran sollten wir uns orientieren“, fordert der Professor. Zudem solle die abschlagsfreie „Rente mit 63“ wieder abgeschafft werden: diese sei ein Fehler gewesen. Für Neurentner solle sie keine Option mehr sein.

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Werding und andere Ökonomen fordern angesichts des demografischen Wandels eine längere Lebensarbeitszeit. Auch, um den Bundeszuschuss für die Rentenkasse nicht weiter anschwellen zu lassen. Laut Sozialbericht 2021 wird der Zuschuss für die Rentenkasse 2025 etwa 97,6 Mrd. Euro betragen. Geld, das für dringend benötigte Investitionen - etwa im Bildungssektor - fehlt.

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