In einem Zug die Einnahmen der Sozialversicherung steigern: und gleichzeitig Unternehmenssteuern senken? Das mag zunächst verrückt klingen. Doch mit einem Konzept, das beides leisten soll, kommen die CDU-Bundestagsabgeordneten Kai Whittaker und Markus Reichel um die Ecke. Sie fordern eine Art Bürgersozialversicherung mit Entlastungsbonbon für Unternehmer: Die zunächst stärker belastet werden. Beide haben ein Reformpapier vorgelegt, über das aktuell der Südwestrundfunk (SWR) berichtet. Sie verstehen ihr Konzept als einen „umfassenden Vorschlag (…), um die Sozialversicherungen dauerhaft finanziell abzusichern“. Sogar der staatliche Steuerzuschuss zur Rentenversicherung solle obsolet werden. Der Reformvorschlag wird auf der Webseite von Whittaker ausführlich vorgestellt.

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Dabei sehen die CDU-Politiker aus mehreren Gründen Handlungsbedarf. Zum einen stellen sie fest, dass die Sozialversicherung aufgrund des demografischen Wandels Einnahmen verliert und sich mit steigenden Ausgaben konfrontiert sieht: weniger Erwerbstätigkeiten stehen schlicht mehr Rentnerinnen und Rentner gegenüber. So weit bekannt. Sie verweisen aber auch auf zunehmende hybride Einkommensstrukturen: zum Beispiel Menschen, die als Angestellte zusätzlich einen Onlineshop betreiben oder zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit hin- und her wechseln. Auch das trage dazu bei, dass der Sozialversicherung Einnahmen verloren gehen, denn diese zusätzlichen Einkünfte werden dann nicht berücksichtigt.

“Die Folge ist, dass die Beiträge zu den Sozialversicherungen immer weiter steigen müssten, wenn sich sonst nichts ändert. Dabei sind die Beiträge heute schon bei 40 Prozent und damit sehr hoch. Potenziell könnten sie bis über 50 Prozent steigen“, heißt es in dem Papier. Das mache Arbeit immer teurer, entmündige den Bürger und schade dem Wirtschaftsstandort Deutschland, „da Fach- und Arbeitskräfte es vorziehen werden, in Länder mit geringeren Abgaben und Steuern zu arbeiten“.

Alle sollen einzahlen - und auch Kapitalerträge sollen sozialversicherungspflichtig werden

Die Lösung der beiden Politiker für dieses Problem: Die Einnahmeseite deutlich vergrößern. Auch Selbstständige, Beamte und Menschen in Versorgungswerken sollen demnach in die Sozialversicherung einzahlen. Und keineswegs soll die Pflicht für Sozialbeiträge auf Löhne und Gehälter beschränkt bleiben. „Zukünftig wollen wir, dass alle Einkünfte eines Jahres herangezogen werden, um Sozialversicherungsabgaben zu bezahlen. Konkret heißt das, dass wir nicht mehr unterscheiden, ob man Geld in abhängiger Beschäftigung, als Selbstständiger oder durch Kapitaleinkünfte verdient“, heißt es in dem Papier. Auch Gewinne aus zum Beispiel Aktien- und Fondsverkäufen würden demnach sozialversicherungspflichtig werden.

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Ziehe man alle Einkünfte für die Finanzierung der Sozialversicherungen heran, so lägen die Sozialabgaben nicht mehr bei knapp 40 Prozent, sondern bei 27,6 Prozent, so haben die CDU-Politiker anhand des Versicherungsberichts des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 2019 errechnet. Und überproportional sollen Menschen mit kleinen Einkommen profitieren. „Durch die massive Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge entlasten wir insbesondere die untere Einkommenshälfte. Diese bezahlt nämlich neben der Mehrwertsteuer hauptsächlich Sozialbeiträge. Durch Steuersenkungen kann man die untere Einkommenshälfte kaum entlasten. Am effektivsten geht dies durch geringere Sozialbeiträge“, heißt es im Papier. Fußnote: Weil das Konzept auch die Krankenversicherung einbezieht, würde es auch das Aus für die private Krankenvollversicherung bedeuten.

Abrücken vom Äquivalenzprinzip

Doch alle Einkünfte für die Sozialversicherung heranziehen: Gibt es da nicht Probleme? Schließlich sind damit ja auch Anrechte auf Leistungen verbunden. Bei der Unfall-, Kranken- und Pflegeversicherung sei es relativ unproblematisch, alle Einkünfte zu berücksichtigen, argumentieren Whittaker und Reichel. Hier hängen die Leistungen nicht von der Höhe der Einzahlung ab. Anders hingegen in der Renten- und Arbeitslosenversicherung. Hier gilt das Äquivalenzprinzip: stark vereinfacht, dass jeder eingezahlte Euro auch den gleichen Anspruch an monatlichen Rentenzahlungen nach sich zieht. Wer viel einzahlt, erwirbt folglich auch höhere Rentenansprüche.

Zudem werden die Leistungen der Renten- und Arbeitslosenversicherung als Lohnersatzleistung verstanden. Das bringt ein Problem mit Kapitaleinkünften mit sich: Es muss schlicht gerechtfertigt werden, darauf Sozialbeiträge zu erheben, da sie von der Erwerbsarbeit abgekoppelt sind und auch im Rentenalter Ertrag abwerfen. Deshalb brauche man Kapitaleinkünfte nicht mit Sozialversicherungsbeiträgen belasten. „Allerdings zeigt die Digitalisierung, dass sich Geschäftsmodelle viel schneller verändern. Es ist nicht mehr gesichert, dass Unternehmen auch in späteren Jahrzehnten existieren und Renditen erwirtschaften“, heißt es im Papier. Daraus lasse sich rechtfertigen, auch Kapitaleinkünfte entsprechend zu belasten.

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Noch schwerer könnten verfassungsrechtliche Bedenken wiegen. Würde man alle Leistungen heranziehen, müsste man laut Gesetz auch die Leistungen verbessern: im schlimmsten Fall ein Nullsummenspiel, weil mehr Einnahmen ja auch mehr Ausgaben gegenüberstünden.

Als Lösung für dieses verfassungsrechtliche Problem schlagen Whittaker und Reichel zwei Schritte vor. Zum einen soll die Beitragsbemessungsgrenze abgeschafft werden: Damit werden alle Einkünfte sozialversicherungspflichtig. Das würde die Einnahmen erhöhen, aber auch zu einer deutlichen Mehrbelastung von Menschen mit hohen Einkommen in der Sozialversicherung führen.

Schritt Numero zwei ist eine Aufteilung der Sozialversicherungsbeiträge in einen Beitrags- und einen Umlageanteil. „Der Beitragsanteil funktioniert nach dem Äquivalenzprinzip. Je mehr man einzahlt, desto mehr erhält man raus. Der Umlageanteil hingegen ist ein progressives Element, das wie eine Steuer funktioniert. Für diesen Anteil erhält man keine individuelle Leistung, sondern sie ist ein Beitrag zur sozialen Absicherung der Gesellschaft“, heißt es im Konzeptpapier. Diese würden sich aktuell auf 27,6 Prozent des Bruttoeinkommens summieren, wenn die Reform wie vorgeschlagen umgesetzt würde. Die Anteile verschieben sich jedoch abhängig von der Höhe des Einkommens. Je höher das Gehalt, desto höher der Umlageanteil.

Damit sei es möglich, die Steuerzuschüsse in die Renten- und Krankenversicherung direkt einzugliedern und den steuerlichen Finanzbedarf transparenter gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern zu machen, versprechen die beiden Autoren.

Kapitalertragssteuer, Unternehmenssteuer und Erbschaftssteuer sollen wegfallen

Bedeuten die Vorschläge aber nicht auch, dass zunächst die Kapitalkosten deutlich steigen und speziell Menschen mit hohen Einkommen mehr zahlen müssen? Das räumen die beiden CDU-Politiker ein. „Wer Kapitaleinkünfte erzielt, würde deutlich mehr Abgaben zahlen als bisher“, heißt es in dem Papier. Und weiter: "Wenn Geld in Form von Löhnen oder Dividenden den Betrieb verlässt, fallen grundsätzlich immer für alle die Sozialversicherungsbeiträge an.“

Dafür aber soll es Entlastung an anderer Stelle geben. Kapitaleinkünfte sollen künftig nicht mehr mit der Kapitalertragssteuer belastet werden, sondern mit dem individuellen Einkommenssteuertarif. Zweitens soll die Unternehmenssteuer so weit wie möglich abgeschafft werden. „Wenn Geld in Form von Löhnen oder Dividenden den Betrieb verlässt, fallen grundsätzlich immer für alle die Sozialversicherungsbeiträge an. Es ergibt dann aber keinen Sinn mehr, die Finanzkraft des Unternehmens durch eine Steuer noch weiter zu verringern“, schreiben die CDU-Politiker. Drittens soll auch die Erbschaftssteuer wegfallen. „Die Finanzierung der staatlichen Aufgaben sollte laufende Einnahmen aus Arbeit und Kapital erzielt werden, aber nicht durch die steuerliche Substanzbelastung“, heißt es.

Die Reform würde nach Einschätzung der CDU-Politiker Gewinner und Verlierer produzieren. Arbeitnehmer unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze würden um mehr als ein Viertel entlastet und hätten mehr Geld für privaten Konsum. Auch Unternehmen mit hohen Arbeitskosten sollen profitieren, weil sie weniger Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung zahlen müssten.

Arbeitnehmer mit einem Einkommen über der Beitragsbemessungsgrenze würden hingegen mehr zahlen müssen, auch Anleger oder Immobilienbesitzer auf ihre Kapitaleinkünfte. Teils hänge es schlicht von der Art der Einnahmen ab, ob mehr oder weniger gezahlt werden müsse. Ein Unternehmer müsste mehr für erzielte Renditen zahlen, würde aber bei den Arbeitskosten entlastet.

Die Reaktionen auf den Vorschlag zeigen, dass sich die beiden CDU-Politiker mit ihrem Vorschlag zwischen alle Stühle setzen. Eine -de facto- Bürgerversicherung, die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze, das Aus für die private Krankenvollversicherung, eine anfängliche Mehrbelastung von Gutverdienern, die nur indirekt und unter bestimmten Umständen von Erleichterungen Gebrauch machen können: Das stößt auch der eigenen Partei vor den Kopf. „Wir können nicht in der jetzigen Situation Debatten führen, die zu einer Mehrbelastung der arbeitenden Mittelschicht unserer Gesellschaft führen“, zitiert der SWR Thorsten Frei, den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Frei lobt freilich auch, dass die Konzeptgeber ausgetretene Pfade verlassen und „Out of the Box“ denken.

Lob gab es aber vom Sozialverband Deutschland (SoVD). "Hier wird ein interessanter Input zur allgemeinen Debatte um die Rente und unsere Sozialversicherungssysteme geliefert", sagte dessen Vorsitzende Michaela Engelmeier. Der Verband schlage schon länger vor, auch Einkünfte aus Aktiengewinnen und der Vermietung von Immobilien in die Finanzierung der Rente einzubeziehen.

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