Was bedeutet es für die Betroffenen, wenn ihnen zustehende Leistungen entgehen?
Wenn Patienten ihre ihnen zustehenden Leistungen nicht erhalten, führt das nicht nur zu finanziellen Einbußen. Viele Betroffene empfinden die Situation als belastend und frustrierend, da sie auf die ihnen zustehenden Hilfen angewiesen sind. Oft entsteht dadurch ein Vertrauensverlust gegenüber den Abläufen im Sozial- und Gesundheitssystem.
Wo verläuft für Ihre Patienten die Grenze zwischen Reha mit dem Ziel der Rückkehr in Arbeit und dem Übergang in die Pflegebedürftigkeit?
Die Grenze ist oft fließend. Rechtlich und organisatorisch werden diese Leistungen jedoch von unterschiedlichen Trägern bereitgestellt: Rehabilitationsmaßnahmen zur beruflichen Teilhabe werden überwiegend von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) erbracht, medizinische Maßnahmen, zum Beispiel nach Krankheit oder für pflegende Angehörige, werden von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen, während Pflegeleistungen über die Pflegeversicherung abgerechnet werden. Die Kriterien für die Gewährung dieser Leistungen unterscheiden sich, sodass Patienten je nach Einstufung unterschiedliche Ansprüche haben. In der Praxis kann dies zu Unterbrechungen oder Anpassungen im Leistungsfluss führen, die zusätzlichen organisatorischen Aufwand erfordern.
Wie beurteilen Sie die politische Diskussion rund um die Pflegeversicherung?
Die politische Diskussion zur Pflegeversicherung ist von unterschiedlichen Perspektiven geprägt. Es gibt Bestrebungen, die Finanzierung der Pflegeversicherung langfristig zu sichern und die Leistungen für Pflegebedürftige sowie pflegende Angehörige zu verbessern. Allerdings wird von verschiedenen Akteuren auch darauf hingewiesen, dass die bisherigen Reformen nicht ausreichen, um die Herausforderungen der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels zu bewältigen. Eine umfassende und nachhaltige Reform der Pflegeversicherung wird daher von vielen Experten gefordert.
Wie erklären Sie den Widerspruch zwischen steigenden Beiträgen und explodierenden Eigenanteilen?
Die steigenden Beiträge zur Pflegeversicherung und die gleichzeitig hohen Eigenanteile in der stationären Pflege spiegeln die finanziellen Herausforderungen wider, die mit der zunehmenden Zahl pflegebedürftiger Menschen und den steigenden Kosten für Pflegeleistungen verbunden sind. Trotz Beitragserhöhungen bleibt die Finanzierungslücke bestehen, sodass viele Pflegebedürftige hohe Eigenanteile tragen müssen. Metaphorisch betrachtet, funktioniert die Pflegeversicherung derzeit wie eine Teilkasko: Sie deckt einen Teil der Risiken ab, lässt aber für die Betroffenen weiterhin Lücken offen. Eine weitergehende Reform, die einer Vollkasko näherkommt, könnte die Finanzierung gerechter gestalten und Pflegebedürftige stärker entlasten.
Haben sozial Schwächere schlechtere Chancen, ihre Ansprüche durchzusetzen?
Es gibt Hinweise darauf, dass sozial schwächere Menschen aufgrund fehlender Ressourcen, Sprachbarrieren oder mangelnder rechtlicher Kenntnisse benachteiligt sind, wenn es darum geht, ihre Ansprüche auf Pflegeleistungen durchzusetzen. Dies widerspricht dem Solidarprinzip der Pflegeversicherung, das eine gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger an den Leistungen gewährleisten soll. Eine stärkere Unterstützung durch Sozialdienste und eine Vereinfachung der Antragsverfahren könnten dazu beitragen, diese Benachteiligung zu verringern.
Würde eine stärkere Einbindung der Versicherungswirtschaft helfen?
Die Einbindung der Versicherungswirtschaft in die Pflegeversicherung wird kontrovers diskutiert. Während einige Experten eine stärkere Rolle der privaten Versicherer befürworten, um zusätzliche Finanzierungsquellen zu erschließen, warnen andere vor den Risiken einer weiteren Kommerzialisierung der Pflege. Ein Beispiel aus der Praxis ist die Riesterrente, die in der Umsetzung für viele Versicherte nur begrenzte Entlastung brachte und deren Wirkung stark von individuellen Umständen abhängt. Ich möchte betonen, dass die Pflegeversicherung als solidarisches System erhalten bleiben sollte, um eine gerechte Versorgung aller Bürger sicherzustellen. Aus meiner Sicht liegt die Verantwortung für eine verlässliche und gerechte Pflegeversorgung in erster Linie beim Staat, der sicherstellen muss, dass alle Bürgerinnen und Bürger Zugang zu angemessenen Leistungen haben.
Welche Rolle spielen die Angehörigen?
Angehörige übernehmen einen erheblichen Teil der Pflegearbeit und sind somit eine tragende Säule des Pflegeversorgungssystems. Allerdings sind sie oft mit hohen physischen, psychischen und finanziellen Belastungen konfrontiert. Eine stärkere Unterstützung durch die Pflegeversicherung, beispielsweise durch deutliche Entlastungsleistungen und viel stärkerer finanzielle Anerkennung, könnte dazu beitragen, die Belastungen für pflegende Angehörige zu verringern und ihre wichtige Rolle im Pflegeprozess zu würdigen.
Wenn Sie drei Änderungen sofort umsetzen könnten – welche wären das?
Eine umfassende Reform der Pflegeversicherung sollte darauf abzielen, die Finanzierung gerechter zu gestalten, die Eigenanteile in der stationären Pflege spürbar zu reduzieren und die Arbeitsbedingungen sowie die Bezahlung der Pflegekräfte zu verbessern. Eine solidarische Finanzierung, bei der alle Bürger entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit beitragen, könnte die finanzielle Basis der Pflegeversicherung stärken. Um die zusätzlichen Kosten einer „Vollkasko-Pflege“ zu decken, wäre eine Kombination aus steuerlicher Finanzierung und moderaten Beitragserhöhungen denkbar, etwa jeweils 50 Prozent. Gleichzeitig würden niedrigere Eigenanteile die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen entlasten. Ebenso wichtig ist es, die Situation der Pflegekräfte zu verbessern, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken und eine qualitativ hochwertige Versorgung sicherzustellen. Zugleich zeigt die Erfahrung, dass unsere Gesellschaft derzeit einen hohen Grad an Individualismus und Ellenbogenmentalität aufweist. Das erschwert eine breite Akzeptanz solcher solidarischen Maßnahmen, obwohl sie notwendig wären, um die Pflegeversicherung langfristig zukunftsfähig zu gestalten und eine gerechte Versorgung aller Bürger sicherzustellen.
Was sagt der Zustand der Pflegeversicherung über unsere Gesellschaft?
Der Zustand der Pflegeversicherung spiegelt die gesellschaftliche Verantwortung wider, die Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen entgegengebracht wird. Viele Aspekte der Pflege werden von den Betroffenen erst im Alltag sichtbar, von hohen Eigenanteilen bis zu komplexen Antragsverfahren. Dass diese Herausforderungen oft erst spät erkannt werden, zeigt, dass die Pflegeversicherung in der Praxis hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Wird nicht offen mit diesen Lücken umgegangen, droht ein System, das seine Schwächsten im Stich lässt. Nur wer die Realität ehrlich benennt, kann dafür sorgen, dass Pflege tatsächlich allen zugutekommt. Andernfalls bleibt sie eine Pflege ohne Wahrheit.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.