„Pflege ohne Wahrheit – ein System, das seine Schwächsten im Stich lässt“

Quelle: DALL-E

Pflegeversicherung zwischen Anspruch und Realität: Sozialarbeiter Tonn schildert im Gespräch mit Alwin W. Gerlach, warum Angehörige überlastet sind, Ansprüche oft verpuffen – und welche Reformen nötig wären.

Einleitung
Pflegebedürftig zu werden, bedeutet nicht nur, mit Krankheit oder Einschränkung konfrontiert zu sein. Es bedeutet auch, in einen Dschungel aus Formularen, Zuständigkeiten und Paragrafen geworfen zu werden. Für viele Betroffene und ihre Familien ist dieser Weg fast so belastend wie die Krankheit selbst: Leistungen müssen beantragt, Fristen eingehalten, Nachweise erbracht werden. Wer sich nicht auskennt, verliert Zeit, Nerven – und oft auch Geld.
Genau an dieser Stelle tritt der Sozialdienst in Rehakliniken auf den Plan. Er ist weit mehr als eine unscheinbare Beratungsstelle am Rande: Hier wird Patienten geholfen, die richtigen Anträge zu stellen, finanzielle Notlagen zu überbrücken und Wege durch das komplexe Sozialgesetzbuch zu finden. Für viele ist der Sozialdienst die erste wirkliche Orientierung in einem System, das sie ohne Unterstützung kaum durchschauen könnten.
Besonders deutlich wird diese Notwendigkeit beim Thema Pflegeversicherung. Zwar ist sie seit fast 30 Jahren gesetzlich verankert, doch in der Praxis zeigt sich: Ohne professionelle Beratung bleibt ihr Nutzen oft weit hinter den Möglichkeiten zurück. Falsch ausgefüllte Anträge, zu spät beantragte Leistungen oder Missverständnisse bei den Pflegegraden führen dazu, dass Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfallen.
Alwin W. Gerlach hat mit einem Sozialarbeiter einer großen Rehaklinik, gesprochen. Er berichtet, warum seine Arbeit für viele Patienten existenziell ist, wie er die Pflegeversicherung aus nächster Nähe erlebt – und welche Reformen dringend notwendig wären, damit aus einem Flickwerk endlich ein System der Sicherheit wird.

Herr Tonn, Sie sind Sozialarbeiter im Sozialdienst einer Rehaklinik. Welche Rolle spielt Ihr Team im Genesungsprozess der Rehabilitanden – über die medizinische Behandlung hinaus?
Unsere Arbeit beginnt dort, wo die Medizin an ihre Grenzen stößt. Viele Rehabilitanden stehen nicht nur gesundheitlich, sondern auch existenziell unter Druck. Wir helfen, den Weg zurück in ein halbwegs stabiles Leben zu ebnen – sei es durch finanzielle Hilfen, die Beantragung von Leistungen oder die Klärung von Rechten und Pflichten. Ohne diesen sozialen Unterbau bleiben medizinische Fortschritte oft wirkungslos.

Viele Menschen wissen gar nicht, dass Kliniken überhaupt Sozialdienste vorhalten. Warum wird diese Unterstützung nicht stärker als selbstverständliches Allgemeinwissen kommuniziert?

Tatsächlich wissen viele Patienten und Angehörige erst im Laufe des Aufenthalts, dass es in der Klinik einen Sozialdienst gibt. Dabei sind Sozialdienste fester Bestandteil von Reha- und Akutkliniken, vor allem im Rahmen des Entlassmanagements. Unsere Aufgabe ist es, rechtzeitig dafür zu sorgen, dass die weitere Versorgung nach dem Klinikaufenthalt gesichert ist, sei es zu Hause, in einer Pflegeeinrichtung oder mit unterstützenden Leistungen. Da dieses Angebot außerhalb der Klinik selten bekannt ist, sind viele Menschen zunächst auf sich allein gestellt. Das zeigt, dass das System bisher stark auf Eigeninitiative setzt. Noch mehr Aufklärung und Information könnten helfen, dass Patienten und Angehörige rechtzeitig von dieser Unterstützung profitieren. Genau hier setzt unsere Arbeit an, um den Übergang in ein stabiles Leben zu sichern.

Wo sehen Sie die größten Informationsdefizite bei Patientinnen und Patienten?

Viele wissen nicht, dass sie Anspruch auf bestimmte Leistungen haben. Krankengeld, Übergangsgeld, Erwerbsminderungsrenten, Pflegeleistungen – das ist für Laien ein unüberschaubarer Dschungel. Selbst hochgebildete Menschen scheitern daran. Informationsdefizite sind also nicht nur ein Problem der „sozial Schwachen“. Es betrifft die gesamte Gesellschaft.

Das Sozialgesetzbuch ist berüchtigt für seine Komplexität. Welche Erfahrungen machen Sie mit Patienten, die versuchen, sich ohne Beratung durchzuschlagen?

Viele geben entnervt auf. Andere beantragen zu spät oder zu wenig, und verlieren dadurch bares Geld. Manche landen sogar in der Schuldenfalle, weil sie nicht wissen, dass ihnen Sozialversicherungsleistungen zustehen. Es ist problematisch, dass Menschen, die ohnehin geschwächt sind, ohne Unterstützung durch diese bürokratischen Prozesse müssen. Immer wieder kommt es auch vor, dass Patientinnen und Patienten ablehnen, Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil sie keine „Almosen“ erhalten wollen. Oft verwechseln sie dabei Sozialversicherungsleistungen mit Sozialleistungen. Dabei würde man ja auch nicht auf die Idee kommen, bei Fälligkeit einer Lebensversicherung zu sagen: „Oh, behaltet mal, ihr wart immer so nett.“ Sozialversicherungsleistungen sind kein Geschenk, sondern das, wofür über Jahre hinweg Beiträge gezahlt wurden.

Wie häufig spielt die Pflegeversicherung in Ihrer Arbeit eine Rolle?

Sehr häufig. Gerade ältere Rehabilitanden müssen klären, ob und in welchem Umfang sie Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen können. Doch die wenigsten wissen, was ihnen zusteht oder wie ein Antrag korrekt gestellt wird. Ohne Beratung bleiben viele Leistungen ungenutzt, dabei ist es gerade im Rahmen unseres solidarischen Systems wichtig, dass Patienten ihre Ansprüche vollständig ausschöpfen können.

Welche typischen Missverständnisse beobachten Sie bei Anträgen zur Pflegeversicherung?

Viele glauben, dass ein Antrag automatisch zum gewünschten Pflegegrad führt. Die Realität ist ernüchternd: Der MD (Medizinische Dienst) prüft streng, Kriterien sind oft unverständlich, und selbst kleine Fehler im Antrag können dazu führen, dass Leistungen nicht gewährt werden. Wir sehen häufig Ablehnungen, die vermeidbar gewesen wären.

Fehlende Pflege-Leistung schürt Vertrauensverlust

Was bedeutet es für die Betroffenen, wenn ihnen zustehende Leistungen entgehen?
Wenn Patienten ihre ihnen zustehenden Leistungen nicht erhalten, führt das nicht nur zu finanziellen Einbußen. Viele Betroffene empfinden die Situation als belastend und frustrierend, da sie auf die ihnen zustehenden Hilfen angewiesen sind. Oft entsteht dadurch ein Vertrauensverlust gegenüber den Abläufen im Sozial- und Gesundheitssystem.

Wo verläuft für Ihre Patienten die Grenze zwischen Reha mit dem Ziel der Rückkehr in Arbeit und dem Übergang in die Pflegebedürftigkeit?

Die Grenze ist oft fließend. Rechtlich und organisatorisch werden diese Leistungen jedoch von unterschiedlichen Trägern bereitgestellt: Rehabilitationsmaßnahmen zur beruflichen Teilhabe werden überwiegend von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) erbracht, medizinische Maßnahmen, zum Beispiel nach Krankheit oder für pflegende Angehörige, werden von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen, während Pflegeleistungen über die Pflegeversicherung abgerechnet werden. Die Kriterien für die Gewährung dieser Leistungen unterscheiden sich, sodass Patienten je nach Einstufung unterschiedliche Ansprüche haben. In der Praxis kann dies zu Unterbrechungen oder Anpassungen im Leistungsfluss führen, die zusätzlichen organisatorischen Aufwand erfordern.

Wie beurteilen Sie die politische Diskussion rund um die Pflegeversicherung?

Die politische Diskussion zur Pflegeversicherung ist von unterschiedlichen Perspektiven geprägt. Es gibt Bestrebungen, die Finanzierung der Pflegeversicherung langfristig zu sichern und die Leistungen für Pflegebedürftige sowie pflegende Angehörige zu verbessern. Allerdings wird von verschiedenen Akteuren auch darauf hingewiesen, dass die bisherigen Reformen nicht ausreichen, um die Herausforderungen der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels zu bewältigen. Eine umfassende und nachhaltige Reform der Pflegeversicherung wird daher von vielen Experten gefordert.

Wie erklären Sie den Widerspruch zwischen steigenden Beiträgen und explodierenden Eigenanteilen?

Die steigenden Beiträge zur Pflegeversicherung und die gleichzeitig hohen Eigenanteile in der stationären Pflege spiegeln die finanziellen Herausforderungen wider, die mit der zunehmenden Zahl pflegebedürftiger Menschen und den steigenden Kosten für Pflegeleistungen verbunden sind. Trotz Beitragserhöhungen bleibt die Finanzierungslücke bestehen, sodass viele Pflegebedürftige hohe Eigenanteile tragen müssen. Metaphorisch betrachtet, funktioniert die Pflegeversicherung derzeit wie eine Teilkasko: Sie deckt einen Teil der Risiken ab, lässt aber für die Betroffenen weiterhin Lücken offen. Eine weitergehende Reform, die einer Vollkasko näherkommt, könnte die Finanzierung gerechter gestalten und Pflegebedürftige stärker entlasten.

Haben sozial Schwächere schlechtere Chancen, ihre Ansprüche durchzusetzen?

Es gibt Hinweise darauf, dass sozial schwächere Menschen aufgrund fehlender Ressourcen, Sprachbarrieren oder mangelnder rechtlicher Kenntnisse benachteiligt sind, wenn es darum geht, ihre Ansprüche auf Pflegeleistungen durchzusetzen. Dies widerspricht dem Solidarprinzip der Pflegeversicherung, das eine gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger an den Leistungen gewährleisten soll. Eine stärkere Unterstützung durch Sozialdienste und eine Vereinfachung der Antragsverfahren könnten dazu beitragen, diese Benachteiligung zu verringern.

Würde eine stärkere Einbindung der Versicherungswirtschaft helfen?

Die Einbindung der Versicherungswirtschaft in die Pflegeversicherung wird kontrovers diskutiert. Während einige Experten eine stärkere Rolle der privaten Versicherer befürworten, um zusätzliche Finanzierungsquellen zu erschließen, warnen andere vor den Risiken einer weiteren Kommerzialisierung der Pflege. Ein Beispiel aus der Praxis ist die Riesterrente, die in der Umsetzung für viele Versicherte nur begrenzte Entlastung brachte und deren Wirkung stark von individuellen Umständen abhängt. Ich möchte betonen, dass die Pflegeversicherung als solidarisches System erhalten bleiben sollte, um eine gerechte Versorgung aller Bürger sicherzustellen. Aus meiner Sicht liegt die Verantwortung für eine verlässliche und gerechte Pflegeversorgung in erster Linie beim Staat, der sicherstellen muss, dass alle Bürgerinnen und Bürger Zugang zu angemessenen Leistungen haben.

Welche Rolle spielen die Angehörigen?

Angehörige übernehmen einen erheblichen Teil der Pflegearbeit und sind somit eine tragende Säule des Pflegeversorgungssystems. Allerdings sind sie oft mit hohen physischen, psychischen und finanziellen Belastungen konfrontiert. Eine stärkere Unterstützung durch die Pflegeversicherung, beispielsweise durch deutliche Entlastungsleistungen und viel stärkerer finanzielle Anerkennung, könnte dazu beitragen, die Belastungen für pflegende Angehörige zu verringern und ihre wichtige Rolle im Pflegeprozess zu würdigen.

Wenn Sie drei Änderungen sofort umsetzen könnten – welche wären das?

Eine umfassende Reform der Pflegeversicherung sollte darauf abzielen, die Finanzierung gerechter zu gestalten, die Eigenanteile in der stationären Pflege spürbar zu reduzieren und die Arbeitsbedingungen sowie die Bezahlung der Pflegekräfte zu verbessern. Eine solidarische Finanzierung, bei der alle Bürger entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit beitragen, könnte die finanzielle Basis der Pflegeversicherung stärken. Um die zusätzlichen Kosten einer „Vollkasko-Pflege“ zu decken, wäre eine Kombination aus steuerlicher Finanzierung und moderaten Beitragserhöhungen denkbar, etwa jeweils 50 Prozent. Gleichzeitig würden niedrigere Eigenanteile die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen entlasten. Ebenso wichtig ist es, die Situation der Pflegekräfte zu verbessern, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken und eine qualitativ hochwertige Versorgung sicherzustellen. Zugleich zeigt die Erfahrung, dass unsere Gesellschaft derzeit einen hohen Grad an Individualismus und Ellenbogenmentalität aufweist. Das erschwert eine breite Akzeptanz solcher solidarischen Maßnahmen, obwohl sie notwendig wären, um die Pflegeversicherung langfristig zukunftsfähig zu gestalten und eine gerechte Versorgung aller Bürger sicherzustellen.

Was sagt der Zustand der Pflegeversicherung über unsere Gesellschaft?

Der Zustand der Pflegeversicherung spiegelt die gesellschaftliche Verantwortung wider, die Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen entgegengebracht wird. Viele Aspekte der Pflege werden von den Betroffenen erst im Alltag sichtbar, von hohen Eigenanteilen bis zu komplexen Antragsverfahren. Dass diese Herausforderungen oft erst spät erkannt werden, zeigt, dass die Pflegeversicherung in der Praxis hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Wird nicht offen mit diesen Lücken umgegangen, droht ein System, das seine Schwächsten im Stich lässt. Nur wer die Realität ehrlich benennt, kann dafür sorgen, dass Pflege tatsächlich allen zugutekommt. Andernfalls bleibt sie eine Pflege ohne Wahrheit.

Ich danke Ihnen für das Gespräch.