Versicherungsbote: Wir möchten mit Ihnen über die Situation der Lebensversicherer sprechen. Diese profitieren einerseits von steigenden Zinsen, weil sie ihre Geldanlagen nur langsam in renditestärkere Alternativen umschichten können und weniger Reserven ansparen müssen. Andererseits ist das Neugeschäft rückläufig und stille Lasten belasten die Bücher. Wie stellt sich die Situation der Lebensversicherer aus Ihrer Sicht aktuell dar? Sind das gute oder schlechte Zeiten?

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Carsten Zielke: Es ist eine verzwickte Situation. Die stillen Lasten hängen wie ein Klotz am Bein, auch wenn die Solvenzsituation durch die höheren Zinsen gut aussieht. Ich würde es so formulieren: es ist die Zeit gekommen, ganz neue Produkte zu entwickeln, die unabhängiger vom Sicherungsvermögen agieren.

Im abgelaufenen Geschäftsjahr haben die Lebensversicherer rund sechs Prozent weniger Bruttobeitrag eingenommen als im Jahr zuvor. Was sind aus Ihrer Sicht Gründe hierfür? Und mit welcher Entwicklung rechnen Sie für die Zukunft?

Der Markt wird jetzt dominiert von laufenden Beitragseinnahmen. Für Einmalbeitragsgeschäft hingegen fehlt jetzt aufgrund des Zinsanstiegs die ökonomische Grundlage. Das wird bleiben. Ich rechne sogar wieder mit einem Anstieg der Prämieneinnahmen.

Stille Lasten waren in den letzten Monaten ein Dauerthema, auch Sie haben sich in Ihrer Studie für den BdV damit beschäftigt. Aufgrund steigender Kapitalmarktzinsen verlieren in der Niedrigzinsphase abgeschlossene Anleihen vorübergehend an Wert – haben aber in der Regel einen fest vereinbarten Endwert. Können Sie kurz erläutern, warum und für welche Versicherer stille Lasten zum Problem werden könnten, so dass der Wertverlust nicht nur vorübergehend ist? Können stille Lasten sogar die Stabilität einzelner Anbieter gefährden?

Das gefährlichste für einen Lebensversicherer in dieser Situation wäre ein Massenstorno. Wenn viele Leute auf einmal ihr Geld zurück haben wollen, müssen die stillen Verluste in reale Verluste getauscht werden, was dann die tatsächlichen Rückkaufwerte belastet. Wenn sich das rumspricht, hat man einen "Insurance Run" – ähnlich wie bei Bankenpleiten zuletzt bei der Sillicon Valley Bank in den USA.

Auch die Lebensversicherer lässt der demographische Trend nicht unberührt. Es ist zu erwarten, dass zukünftig die Zahl der Rentenbezieher steigt, während die Zahl potentieller neuer Kunden eher schrumpft. Ist das aus Ihrer Sicht eine Gefahr für die Branche?

Da es sich um ein kapitalgedecktes System handelt, sehe ich dies nicht wirklich als Problem. Natürlich wird die Liquiditätsplanung anspruchsvoller, da weniger Beitragszahler den nötigen monatlichen Cash generieren. Verkäufe von Wertpapieren müssen länger und genauer geplant werden. Aber das sollten die Versicherer hinbekommen.

Für den Vertrieb fast unumgänglich ist das Thema Abschlusskosten. Die BaFin hat wiederholt die Höhe der Abschlusskosten in der Lebensversicherung kritisiert – und bei einigen Produkten sogar die Eignung als Altersvorsorgeinstrument in Frage gestellt. Die Versicherer halten dagegen, dass die Produkte beratungsintensiv seien und Beratung vergütet werden müsse. Sie selbst sind mit der Zertifizierung von Produkten vertraut. Halten Sie die Kosten im Branchenschnitt für angemessen, auch wenn es natürlich große Unterschiede zwischen einzelnen Anbietern gibt?

Das Problem ist, dass sich die Branche an Abschlussprovisionen gewöhnt hat und nicht auf laufende Vergütungen wie im Fondsgeschäft oder bei Banken umgestellt hat. Von daher sehen die Kostensätze auch entsprechend ungünstig aus. Auf der anderen Seite ist die BaFin frustriert, dass so wenige Vermittler die zeitaufwendige Nachhaltigkeitspräferenzabfrage durchführen. Zudem soll dem Kunden jetzt eine möglichst große Auswahl von Fonds bei der fondsgebundenen Lebensversicherung angeboten werden. Da muss der Berater sich ja auch erst einmal das Wissen aneignen.

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Es bleibt der kulturelle Unterschied: reine Fonds- und Bankprodukte werden gekauft, Versicherungsanlageprodukte verkauft. Hierzu gehört eine andere Mentalität, die nicht jedem gelegen ist. Aber ohne diese Vermittler würde sich ein großer Teil der Bevölkerung gar nicht mit dem Thema Altersabsicherung beschäftigen und der Staat müsste letztendlich wieder zur Leistung einspringen. Helfen würde eine einheitliche Methodik zum Vertriebskostenvergleich – über alle Anlageprodukte annualisiert und über die gesamte angestrebte Laufzeit. Diese Transparenz würde Exzesse von alleine beseitigen.

Provisionsverbot - "Viele Bürger wären auf sich allein angewiesen"

Wie positionieren Sie sich zu einem möglichen Provisionsdeckel oder gar Provisionsverbot? Wären solche Markteingriffe aus Ihrer Sicht wünschenswert? Wäre dies überhaupt ein probates Mittel, die Rendite der Verträge zu steigern?

Mit meinem oben genannten Ausweis könnte man gegebenenfalls einen Deckel definieren. Aber der Markt würde das aus meiner Sicht alleine lösen. Provisionsverbote würden dazu führen, dass viele Durschnittsbürger auf sich alleine angewiesen wären.

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Sie evaluieren und zertifizieren auch die Nachhaltigkeit der Lebensversicherer. Bis 2050 will die Branche klimaneutral werden – das ist allerdings ein langer Zeitraum. Schon aufgrund der langen Laufzeiten können sich Versicherer nur nach und nach von klimaschädlichen Investments trennen, die nach unserem Wissen noch immer einen Großteil ausmachen. Wie nachhaltig ist die Branche aus Ihrer Sicht? Tut sie genug?

Gerade die deutschen Versicherer haben sich stark bewegt, seit sie über ihre Nachhaltigkeitsbemühungen berichten müssen. Mit dem von mir mitentwickelten DIN-Nachhaltigkeitsscore für Finanz- und Lebensversicherungsprodukte sowie der neuen europäischen Nachhaltigkeitsberichtserstattung wird die Transparenz dieser Bemühungen noch deutlicher – und kann in der Performance gemessen werden. Meine Meinung: die werden sich noch mehr anstrengen, um als gute Schüler dazustehen.

Können die Kundengelder ähnlich renditenstark angelegt werden, wenn sie in nachhaltige Fonds und andere „grüne“ Anlageprodukte umgeschichtet werden?

Leider haben wir durch die Ukrainekrise eine Verwerfung der Performance gesehen: Ölproduzierende Unternehmen und vor allem Rüstungsunternehmen haben grüne Investments deutlich überholt. Bei Rüstung muss man sich natürlich fragen, ob es nicht doch nachhaltig ist, wenn ich durch diese Investitionen den Erhalt von demokratischen Systemen garantiere. Das ist zum Beispiel meine Meinung.

Aber insgesamt gilt, dass Unternehmen, bei denen Nachhaltigkeit in der Unternehmensstrategie verankert ist, die besseren Versicherungsrisiken sind, da sie verantwortungsbewusster und vorausschauender agieren. Das sollte auch die richtige Grundlage sein, um besser zu performen als ein Unternehmen, das Rohstoffe aus der Erde holt oder Chemikalien produziert, die unsere Fortentwicklung gefährden. Von daher ist meine Antwort auf Ihre Frage: ja, wenn ich bei "grün" keinen puristischen Ansatz fahre, sondern den Transitionsprozess mit berücksichtige.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig. Das Interview ist im Versicherungsbote Fachmagazin 01/2024 erschienen, das hier kostenfrei abonniert werden kann.

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