Wenn die jungen Unternehmer vor einer zu hohen Belastung durch Renten- und Sozialabgaben warnen, so geschieht dies zunächst auch aus Eigeninteresse, denn viele dieser Abgaben sind paritätisch finanziert - das heißt, die Arbeitgeber müssen sich daran beteiligen. Der Reformbedarf wird aber von vielen Seiten gesehen. So haben auch die Wirtschaftsweisen in ihrem Jahresgutachten dringend mehr Anstrengungen angemahnt, damit in einer alternden Gesellschaft die Beitragszahler und das Gesundheitssystem nicht überfordert werden. Die Bundesregierung hat Reformen angekündigt, aber durch den Dauerstreit um Agrarsubventionen, Bürgergeld etc. ist dieses wichtige Thema in den Hintergrund geraten.

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Nun kommt ein Gutachten der Jungen Unternehmer zu dem Ergebnis, dass ohne Reformen eine Überforderung der Beitragszahler zur Renten- und Sozialversicherung droht. Das Gutachten zeige deutlich, „dass Deutschland rasant auf einen Kipppunkt bei der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung zurast“, heißt es in einem Pressetext zu dem Papier, bei dem der Lobbyverband sehr bewusst einen Begriff aus der Klimadebatte und von Aktivisten wie „Fridays for Future“ aufgreift. Kipppunkt bedeutet in diesem Zusammenhang konkret: eine unumkehrbare Veränderung zum Schlechteren, die ein Handeln nahezu unmöglich macht. Und dieser Kipppunkt wird nach Ansicht der Jungen Unternehmer sehr bald erreicht sein, im Jahr 2030.

Ab Kipppunkt „Sozialstaat weder reformierbar noch finanzierbar“

Der Grund für diesen Pessimismus ist, dass die Beiträge zur Renten-, Kranken- und Sozialversicherung laut dem Gutachten auf ein Maß steigen, die viele Beitragszahler nicht mehr akzeptieren wollen oder können. Ohne Reformen werde der Gesamtbeitragssatz von heute rund 40,9 Prozent auf mehr als 50 Prozent im Jahr 2050 steigen, so heißt es in dem Gutachten.

Schon im Jahr 2030 würde der Gesamtbeitrag laut den Berechnungen bei 44,5 Prozent des Bruttolohnes liegen. „Ab diesem Punkt wird der Sozialstaat, wie wir ihn aktuell kennen, weder finanzierbar noch reformierbar sein! Die Kosten werden dann so erdrückend hoch sein, dass die junge Generation den Generationenvertrag wegen der steigenden Beitragssätze einseitig aufkündigen und sich entweder in Schwarzarbeit oder Auswanderung verabschieden wird“, warnt der Verband.

Doch nicht nur für die Arbeitnehmer werde Deutschland zunehmend unattraktiv, sondern auch für die Arbeitgeber, die hälftig die Beiträge tragen. Man erlebe bereits einen Trend zu Deinvestitionen, warnt Thomas Hoppe, Bundesvorsitzender der Jungen Unternehmer. Mit anderen Worten: Auch Unternehmen verlegen Standorte zunehmend ins Ausland, internationale Konzerne lassen sich anderswo nieder. „Dadurch wird auch die Sozialversicherung der heutigen Babyboomer-Generation nicht mehr finanzierbar sein und ihr Kollaps in erster Linie die Schwachen treffen. Ignoriert die Bundesregierung diesen Reformbedarf, sägt sie schon jetzt an dem Ast, auf dessen Tragkraft sich zig Millionen Versicherte in Deutschland verlassen“, so Hoppe.

Reformbedarf bei Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung

Reformbedarf sehen die Jungen Unternehmer erwartungsgemäß in allen drei Zweigen der Renten- und Sozialversicherung. Für die Rentenversicherung haben die Autoren Stefan Fetzer und Christian Hagist unter anderem Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes, Annahmen zur mittelfristigen Finanzentwicklung aus dem aktuellen Rentenversicherungsbericht sowie Einkommens- und Verbrauchsstichproben ausgewertet. Mit bereits bekannten Ergebnissen: Die geburtenstarken Jahrgänge stehen vor dem Renteneintritt, immer mehr Rentnern stehen immer weniger Beitragszahler gegenüber. Im Umlageverfahren ohne Kapitalstock und mit nur minimalen Rücklagen müssten die Beiträge zu Lasten der Versicherten und ihrer Arbeitgeber entsprechend stark steigen.

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Bereits im Jahr 2029 würde der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung von heute 18,6 Prozent auf dann 19,9 Prozent schrittweise klettern, rechnen die Autoren anhand bereits bekannter Studien vor. Und projizieren dann über das Jahr 2030 hinaus: bei konstantem Beitragssatz würden sich die Einnahmen bis 2080 auf das Dreifache steigen, die Ausgaben im selben Zeitraum jedoch um das 3,5fache. Dies muss dann durch einen steigenden Beitragssatz ausgeglichen werden, was zur Folge hätte, dass dieser bis 2080 von heute 18,6 Prozent auf 23,5 Prozent ansteigen müsste. Noch krasser sieht es aus, wenn die sogenannte doppelte Haltelinie auch über die Legislaturperiode hinaus gehalten werden soll, das Rentenniveau folglich bei mindestens 48 Prozent festgeschrieben. Hier würde langfristig ein Beitragssatz von 25 Prozent nicht mehr ausreichen, der Staat müsste die Steuerzuschüsse zur Rentenversicherung massiv erhöhen, um einen höheren Beitrag abzufedern - Geld, das der Staat nicht hat und für andere notwendige Investitionen fehlt.

Reformideen

Die Reformvorschläge für die gesetzliche Rentenversicherung sind bereits aus anderen Studien bekannt - und würden in diesem Fall einseitig zulasten der Beschäftigten und der Rentner gehen, während die Arbeitgeber durch die vorgeschlagenen Reformen eher nicht belastet werden. So soll der Nachhaltigkeitsfaktor derart nachjustiert werden, dass die Renten weniger schnell steigen - während derzeit Teuerungen im Rentensystem nur zu einem Viertel von den Rentenbeziehern und zu drei Vierteln von den Erwerbstätigen getragen werden, sollen die Lasten fortan gleichmäßiger im Verhältnis 1:1 verteilt werden.

Zudem soll das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung angepasst werden, fordern die Jungen Unternehmer: zunächst auf 68 Jahre, anschließend nach einem dynamischen Modell, das sich an der Steigerung der Lebenserwartung orientiert. Eine Mindesthaltelinie für das Rentenniveau soll es nicht mehr geben. Hierzu sei anzumerken, dass die Wirtschaftsweisen in ihrem Jahresgutachten auch Reformvorschläge diskutieren, die Unternehmer selbst betreffen - etwa die Einbeziehung von Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung. Diese Punkte fehlen hier völlig.

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Auch die gesetzliche Krankenversicherung ist aus Sicht der Jungen Unternehmer dringend reformbedürftig: einerseits, weil die Gesellschaft altert, was statistisch mit höheren Gesundheitskosten einhergeht, zum anderen wegen des medizinischen Fortschritts: Er führt dazu, dass das Leistungsspektrum stetig ausgeweitet wird, während gleichzeitig die Kosten für Therapien nicht sinken. Beides zusammengerechnet, müsste der GKV-Beitragssatz nach dem errechneten Szenario der Ökonomen von 16,3 Prozent im Jahr 2024 auf 25 Prozent in 2080 steigen: wobei anzumerken ist, dass hier mit einem eher ungünstigen Trend und einem sehr hohen Kostendruck gerechnet wird.

GKV-Reform: Selbstbehalte und Kontaktpauschale

Als eher unpopulär könnten sich auch die Reformvorschläge der beiden Autoren für die gesetzliche Krankenversicherung erweisen. Die Wiedereinführung der Praxisgebühr (unter dem Begriff „Kontaktpauschale“) und die Möglichkeit der Krankenkassen, Selektivverträge mit Selbstbehalten durchzusetzen, könnten zu Lasten chronisch Kranker und Schwerstkranker gehen, wie die Autoren indirekt zugeben müssen.

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Die Kontaktpauschale soll 15 Euro je Kontakt bei ambulanten Ärzten und Zahnärzten betragen. Bei durchschnittlich 15 Arztkontakten und zwei Zahnarztkontakten pro Jahr beziffern die Autoren das Einsparpotential auf 15 Milliarden Euro jährlich. Den Einwand, dass damit gerade Menschen mit geringem Einkommen davon abgehalten werden einen Arzt aufzusuchen und es infolgedessen zu noch schwereren Folgeerkrankungen kommt, weil schwere Krankheiten nicht rechtzeitig erkannt werden, halten sie entgegen, dass es bereits heute eine Belastungsgrenze nach § 62 SGB V gebe, "welche die Ausgaben für die GKV für Versicherte auf zwei Prozent und bei chronisch Kranken auf ein Prozent der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt begrenzt". Zusätzliches Einsparpotential sehen die beiden Autoren durch die zunehmende Digitalisierung von Prozessen - und damit den Abbau ineffizienter und bürokratischer Vorgänge, die ebenfalls Geld verschlingen.

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  • Junge Unternehmer warnen vor "Kollaps des Sozialstaates"
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