Als die EU 2009 ihre Solvency-II-Richtlinie veröffentlichte, nach der Versicherer jährlich ihre Finanzkraft nachweisen müssen - die Umsetzung in nationales Recht dauerte, wie bei EU-Gesetzgebung nicht unüblich, mehrere Jahre -, war klar, dass es sich um eine vorläufige Regelung handeln würde. Die EU-Gremien wollten mit Hilfe der nationalen Aufsichtsbehörden die Wirkung evaluieren, um gegebenenfalls Änderungen vornehmen zu können. Und das heißt oft: Die EU behält sich vor, die Regeln weiter zu verschärfen.

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Nun starten die EU-Gremien die Verhandlungen über ein Update der Regeln, wie der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) auf seiner Webseite berichtet. Im sogenannten EU-Trilog müssen die Kommission, Parlament und Ministerrat zustimmen. Das nimmt der Versichererverband zum Anlass, vor einer Überforderung kleiner Versicherer zu warnen.

“Solvency II hat sich seit seiner Einführung bewährt. Zu hohe Anforderungen lassen aber kaum Luft für Investitionen in die so wichtige Transformation“, sagt GDV-Hauptgeschäftsführer Jörg Asmussen. Gemeint ist, dass die Versicherer mit ihrer Geldanlage einen aktiven Beitrag leisten sollen, damit die Wirtschaft nachhaltiger und klimafreundlicher wird. Der Trilog biete die Chance, den Vorschlag der EU-Kommission gezielt zu verbessern, vor allem die Extrapolation und die Volatilitätsanpassung der Zinskurve. „Solvency II muss in jedem Zinsumfeld funktionieren, daher sind Anpassungen zur Berücksichtigung negativer Zinssätze, wie von der Kommission vorgeschlagen, grundsätzlich sinnvoll“, so Asmussen. „Die Verschärfungen an der Extrapolation der risikofreien Zinsen schießen aber deutlich über das Ziel hinaus.“

Risikofreie Zinsstrukturkurve: Wie werden zukünftige Zahlungspflichten der Versicherer eingerechnet?

Der GDV stößt sich vor allem an den Vorschlägen zur Extrapolation und Volatilitätsanpassung der Zinsstrukturkurve. Der Versicherungsaufsicht stellt sich die Schwierigkeit, dass sie sowohl die Kapitalanlagen als auch die Verpflichtungen der Versicherer zu Marktwerten bewerten muss, um die Stabilität eines Versicherers beurteilen zu können. Es gibt jedoch keinen Markt, auf dem Versicherungsverpflichtungen gehandelt werden - zumindest nicht in dem Sinne, dass die Aufsichtsbehörden verlässliche Preise für die Verpflichtungen ableiten könnten, wie die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) in einem Fachartikel erklärt.

Um dennoch die zukünftigen Verpflichtungen der Versicherer abbilden zu können, wird aus den erwarteten Zahlungsströmen ein Barwert ermittelt. Berechnungsgrundlage hierfür ist eine sogenannte risikofreie Zinsstrukturkurve (RFR). Diese Kurve wird monatlich von der europäischen Aufsichtsbehörde EIOPA berechnet. Sie soll es ermöglichen, durch eine modellhafte Extrapolation - stark vereinfacht eine Wertschätzung nach streng definierten Kriterien - auch die Zahlungsverpflichtungen abzubilden, die sich für die Versicherer aus sehr lang laufenden Verträgen ergeben. Denn teilweise sind Vertragslaufzeiten von mehr als 50 Jahren möglich.

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Die Frage ist nun, welche Daten in diese Zinsstrukturkurve eingerechnet werden, um versicherungstechnische Rückstellungen zu bewerten. Hier sollen Daten aus tiefen, liquiden und transparenten (DLT) Kapitalmärkten einfließen. Explizit hat die europäische Versicherungsaufsicht EIOPA den Auftrag erhalten, zu ermitteln, bis wann Märkte die entsprechenden Kriterien erfüllen, um als tief, liquid und transparent zu gelten. Für den Euro sowie für festverzinsliche Staatsanleihen liegt er derzeit bei einer Laufzeit von höchstens 20 Jahren. Der Endzeitpunkt wird als Last Liquid Point (LLP) bezeichnet. Ausgehend von diesem „letzten Punkt“ werden die zukünftigen Zahlungspflichten und notwendigen Rückstellungen der Versicherer neu bewertet, um spätere Verpflichtungen der Versicherer zu errechnen: nach den zu diesem Zeitpunkt vermuteten Zinsen.

Mehr Volatilität in Modellrechnungen dank neuer Parameter

Nun kommt eine weitere Größe ins Spiel, die bei der Bewertung langfristiger Zahlungspflichten eine Rolle spielt. Nach der derzeit gültigen Extrapolationsmethode wird nach einer Periode von 40 Jahren ein Wert erreicht, der eine Langfristerwartung widerspiegelt. Beziffert wird sie durch die sogenannte Ultimate Forward Rate (UFR). Sie erlaubt es, kurz- bis mittelfristige Marktstörungen auszugleichen und wirkt entsprechend stabilisierend. Die europäische Versicherungsaufsicht hat hierfür, ohne dass sie dazu aufgerufen war, Änderungen vorgeschlagen. Auch nach der neuen Methode beginnt die Extrapolation nach 20 Jahren, wenn keine gesicherten Daten gemäß Definition mehr zur Verfügung stehen. Der Startwert ist aber nicht mehr der dort beobachtete Zins. „Eine neu eingeführte Größe strebt nun an, auch Daten aus DLT-Swap-Märkten heranzuziehen und in diesem Startwert zu berücksichtigen“, berichtet die DAV.

Das Einrechnen von DLT-Swap-Daten trägt unter anderem dem Umstand Rechnung, dass Versicherer zunehmend über neue Technologien wie Blockchain investieren - und dass in der Geldanlage auch riskantere Investments erlaubt sein sollen, damit Versicherer den „Green New Deal“ und die ökologische Wende unterstützen können. Die EU erhofft sich von den Versicherern auch Investitionen, um die Nachwirkungen der Corona-Krise abzumildern, also der EU beim Schuldenabbau zu helfen. Ein neu zu bestimmender Konvergenzparameter soll dabei helfen, die neuen Ausgangswerte an die UFR anzunähern: folglich an den Zielwert nach 40 Jahren.

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Für Versicherer hat die neue Rechenmethode nach Ansicht der DAV mehrere negative Auswirkungen. Sie müssen eine höhere Volatilität einrechnen: Was auch konkret bedeuten würde, dass sie mehr Risikokapital zurückhalten müssen. Die daraus resultierenden Reportpflichten sorgen zudem dafür, dass neue Reportpflichten drohen. Bis zum Jahr 2032 sollen Übergangsmaßnahmen gestattet sein, damit sich die Unternehmen auf das neue Rechenprinzip einstellen und ihre Kapitalanlagen entsprechend anpassen können.

"Die vorgeschlagene sachgerechtere Berechnung des Zinsrisikos wird zu einer deutlichen Erhöhung des Bedarfs an Solvenzkapital führen. Daher wird auch dafür eine graduelle Einführung über fünf Jahre vorgeschlagen. Damit stehen die Lebensversicherer vor einer Mammutaufgabe: Sie sollen tiefgreifende Veränderungen verkraften und die Umsetzung durch umfangreiche zusätzliche Berechnungen dokumentieren. Das führt zu einer kaum zu bewältigenden Anforderung an die Unternehmenssteuerung", schreibt die DAV in einem Fachaufsatz. Zwar gab dies den Stand zu Niedrigzinszeiten wieder, da die Einrechnung negativer Zinsen den Bedarf der Versicherer an zusätzlichem Kapital erhöht hätte. Trotzdem müssten sich die Versicherer auf einen deutlichen Mehraufwand einstellen: und auch darauf, dass einige ihrer gehaltenen Geldanlagen als deutlich weniger sicher eingestuft würden. Sie müssten folglich mehr Eigenkapital zurückhalten - und noch konservativer investieren.

Die Pläne der EU-Kommission sehen weitere Korrekturen vor. Die Versicherer sollen künftig Klimarisiken mittels Szenariorechnungen untersuchen und dies in ihr internes Risikomanagement einbeziehen. Zudem will die EIOPA Nachhaltigkeitsrisiken definieren, die dann auch strengere Kapitalanforderungen der Versicherer bereithalten. Eine mögliche Bevorteilung grüner Investments hatte der GDV bereits bei Bekanntwerden der ersten Entwürfe 2021 kritisiert. Grüne Investments seien nicht automatisch risikoärmer als andere - bei der Bewertung der Solvenz müsse die finanzielle Stabilität Hauptkriterium bleiben.

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Ein weiterer Punkt: Kleine Versicherer sollen entlastet werden. Das begrüßt der GDV explizit, zeigt sich dennoch enttäuscht. Der neue Rahmen sei vor allem für den deutschen Markt wenig praxistauglich. „Der Vorschlag der Kommission, Versicherern mit geringem Risikoprofil Erleichterungen zuzugestehen, ist ein richtiger Impuls”, sagt Asmussen. Allerdings seien die Kriterien, mit denen diese Versicherer bestimmt werden sollen, für größere Märkte viel zu restriktiv. „Wir erwarten, dass nur eine sehr kleine Zahl von deutschen Versicherern von diesen Erleichterungen profitieren wird“, so Asmussen. Leider habe kein Trilog-Partner diesen Punkt aufgegriffen. Der Verband setze sich deshalb dafür ein, dass alle fünf Jahre eine Überprüfung der Richtlinie in Bezug auf die Proportionalität durchgeführt wird.

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