Gesetzliche Lücken und teure Medikamente treiben aus Sicht der AOK die Arznei-Ausgaben der Krankenkassen immer mehr in die Höhe. Wie aus dem am Mittwoch in Berlin veröffentlichten AOK-Arzneiverordnungsreport hervorgeht, stiegen die Kosten in dem Bereich 2016 auf 38,5 Milliarden Euro, so berichtet das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO).

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Hochpreispolitik der Pharma-Hersteller

Ein Grund für die explodierenden Arzneikosten sei, dass die Pharma-Hersteller eine Hochpreispolitik bei neuen Medikamenten verfolgen. „2016 wurden mehr, aber vor allem auch teurere Arzneimittel verordnet. Hauptursache dafür war die überproportionale Kostensteigerung bei den patentgeschützten Wirkstoffen“, sagt Ulrich Schwabe, Herausgeber des Arzneiverordnungs-Reports 2017. Diese Medikamente kosteten oft mehr, "als sie wert sind", so der Studienleiter.

Anders als in anderen europäischen Staaten dürfen die Pharma-Hersteller den Preis ihres patentgeschützten Produkts in den ersten zwölf Monaten nach dem Marktzugang frei festlegen. Erst nach einem Jahr gilt ein zwischen dem Anbieter und dem GKV-Spitzenverband auf der Grundlage der Frühen Nutzenbewertung ausgehandelter Erstattungspreis. Die hohen Preise betreffen auch Medikamente, die keinen oder nur einen geringen Zusatznutzen gegenüber etablierten Arzneien habe, kritisiert die AOK.

Dass gerade neue und patentgeschützte Medikamente immer teurer werden, zeige sich an der Entwicklung der höchsten Bruttoumsätze je Verordnung, erklärt Schwabe. Das teuerste eine Prozent aller Produkte hatte 2006 mindestens einen Bruttoumsatz von 946 Euro je Verordnung. 2016 waren es bereits mindestens 3.979 Euro. „Patentgeschützte Arzneimittel sind in Deutschland besonders teuer. In Ländern wie Österreich oder den Niederlanden, deren Wirtschaftskraft mit Deutschland vergleichbar ist, sind die öffentlich bekannten Listenpreise etwa 20 Prozent günstiger als bei uns“, so der Experte (siehe Grafik).

Preisvergleich für die 250 umsatzstärksten Patentarzneimittel des Jahres 2016. Quelle: AOK-Arzneimittelverordnungs-Report / WIdO.

„Desinformation auf Fachkongressen und in Zeitschriften“

Besonders ins Geld gingen biologische Arzneimittel (Biologika), die als arzneilich wirksame Bestandteile gentechnologisch erzeugte Wirkstoffe enthalten, ergänzt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), bei der Vorstellung des Reports. Einerseits seien diese Medikamente für Rheuma- und Tumorkrankheiten unverzichtbar. Andererseits gebe es alternativ zu diesen Produkten oft sogenannte Biosimilars auf dem Markt – Nachfolgeprodukte, die deutlich kostengünstiger sind. Dass Ärzte diese Nachahmer selten verschreiben, sei auch Folge von „Desinformation auf Fachkongressen und in interessegeleiteten Fachzeitschriften“, so Ludwig. In Wahrheit seien Biosimilars nicht schlechter oder riskanter als die Originale.

Schnellzulassungen auf Kosten der Patienten?

Ein weiteres gravierendes Problem besteht aus Sicht der AOK und der Ärzteschaft. Darauf hoffend, gute Preise für neue Medikamente erzielen zu können, würde die Pharmaindustrie immer mehr Arzneien per Schnellzulassung durchboxen. Eigentlich sind diese Schnellzulassungen dazu gedacht, die Patienten mit seltenen und schweren Krankheiten möglichst rasch mit neuen Wirkstoffen zu erzielen: also für Ausnahmefälle. Dafür sehen sie geringere Hürden vor, etwa, dass weniger Studien nachgewiesen werden müssen. Die Realität sieht freilich anders aus. 30 bis 40 Prozent aller Arznei kämen per Schnellverfahren auf den Markt - „mit steigender Tendenz“, wie Ludwig kritisiert.

Die Zahl beschleunigter Zulassungen von Medikamenten ist in den letzten Jahren europaweit stark angestiegen. Quelle: AOK Arzneiverordnungsreport 2017.

Oft würde bei diesen Verfahren die Wirksamkeit der Medikamente überschätzt, die Nebenwirkungen hingegen unterschätzt, bemängelt der Ärzte-Lobbyist. Und das bedeute eine reale Gefahr für die Patienten: Es gebe schlicht nicht genug Tests, ob und wie diese Medikamente wirken.

Die AOK fordert nun einen gemeinsamen Fonds der Arzneimittelindustrie, um weitere Tests an diesen Medikamenten zu finanzieren. Die Mittel müssten auch nach ihrer Markteinführung weiter überprüft werden. Den Herstellern dürfe man dies nicht überlassen. „Sie kommen ihrem Auftrag, auch nach erfolgter Zulassung zur Sicherheit, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit zu forschen, nicht ausreichend nach“, kritisiert AOK-Chef Martin Litsch. Auch der Gesetzgeber müsse bestehende Gesetzeslücken für die Einführung neuer Medizin schließen.

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Der Pharmaverband vfa wies die Kritik an überteuerten Preisen zurück. Er verwies in einer Stellungnahme darauf, dass den Herstellern wichtige therapeutische Durchbrüche gelungen seien, etwa die Heilung von Hepatitis-C-Patienten und in der Krebstherapie. Auch sei der Arzneimittelanteil der Krankenversicherer an den Gesamtausgaben um acht Prozent rückläufig.

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