Vertrauen verspielt: Warum die Lebensversicherung ihre Rolle neu finden muss

Quelle: DALL-E

Zwischen Renditeerwartungen, Kostendruck und regulatorischen Vorgaben: Die Lebensversicherung steht am Scheideweg. Soll sie Zukunft sichern, braucht es mehr als Hochglanzbroschüren. Alwin W. Gerlach plädiert im Gastbeitrag dafür, dass Versicherer, Politik und Aufsicht verlorengegangenes Vertrauen zurückgewinnen.

Es ist eine vertraute Szene: Ein Beratungsgespräch beginnt mit der Sorge vor Altersarmut, steuerlichen Vorteilen und dem „besten Zeitpunkt“ für den Abschluss. Am Ende steht eine Unterschrift unter einem Vertrag, der Jahrzehnte bindet – häufig begleitet von der Frage, die niemand laut stellt: Wer profitiert hier eigentlich? Der Kunde? Der Berater? Oder das System dahinter?

Mit über 80 Millionen Verträgen und einem Beitragsvolumen im zweistelligen Milliardenbereich ist die Lebensversicherung ein Schwergewicht. Marktführer wie Allianz, Generali und R+V prägen das Bild der Branche. Und doch schrumpft der Bestand – ausgerechnet in Zeiten, in denen demografischer Wandel und Rentenlücken eigentlich zusätzliche Vorsorge nahelegen. Das Paradox verweist auf eine tieferliegende Wahrheit: Lebensversicherungen sind selten Nachfrageprodukte. Sie werden verkauft.

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Gesellschaftliche Aufgabe statt Renditemaximum

Lebensversicherer sind nicht nur Kapitalverwalter, sie sind Träger einer gesellschaftlichen Infrastruktur: Sie sichern Hinterbliebene im Todesfall und ermöglichen im Erlebensfall Kapital- oder Rentenzahlungen, die ein Leben in Würde stützen sollen. Diese Aufgabe lässt sich nicht im Vokabular der reinen Gewinnmaximierung abbilden. Sie verlangt Verlässlichkeit, Fairness und eine klare Priorität: die Absicherung der Versicherten vor dem Ergebnis der Quartalszahlen.

Genau hier aber klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit: In den vergangenen Jahren erreichten Auszahlungen häufig nicht das Niveau, das Kundinnen und Kunden ursprünglich erwartet hatten. Der Garantiezins ist gesunken, Kosten wirken, Zinsumfeld und Regulierung verändern Kalkulationen. In Einzelfällen wurde sogar kommuniziert, dass am Ende der Laufzeit nur rund 80 % der einbezahlten Beiträge zurückfließen könnten. Juristisch mag das erklärbar sein – vertrauensökonomisch ist es sprengstoffgeladen. Wer über Jahrzehnte spart, erwartet mehr als die Summe der Einzahlungen. Bleibt diese Erwartung unerfüllt, verliert das Produkt seine Legitimation.

„Geht man dann eben an den Markt?“ – Die Aktienfrage, ehrlich beantwortet

Der Blick auf den DAX nährt die Hoffnung: „Hätte ich doch einfach in Aktien investiert.“ Doch die Rechenaufgabe ist komplexer. Nicht jede und nicht jeder partizipiert an Indexrenditen – Kosten, Steuern, Timing-Risiken, Psychologie entscheiden mit. Institutionelle Investoren beherrschen Steuerungsmechanismen und Risikodisziplin oft besser als Privatanleger. Genau hier liegt die Chance verantwortungsvoller Lebensversicherer: Beratung, die nicht verkauft, sondern befähigt. Eine Beratung, die Chancen (Aktien, Fonds, ETFs) gegen Sicherheiten (Garantieelemente, Glättung, Langlebigkeitsabsicherung) ehrlich abwägt – und damit Entscheidungen ermöglicht, die verstanden und getragen werden.

Vom Verkaufsakt zur Entscheidungskompetenz des Kunden

Die Branche hat sich zu sehr an den Verkaufsakt gewöhnt: Abschluss statt Aufklärung, Quote statt Qualität. Das Provisionsdilemma tut sein Übriges: Hohe Abschlussvergütungen schaffen Anreize, die dem langfristigen Kundennutzen entgegenstehen. Echte Beratung beginnt dort, wo man das Produkt hinter die Person stellt – Biografie, finanzielle Belastbarkeit, Risikoneigung, familiäre Situation, steuerlicher Rahmen. Das Ziel ist nicht der Vertrag, sondern die tragfähige Vorsorgelösung.

Bankassurance: Wenn Breite Tiefe frisst

Bankassurance kann Synergien heben – wenn sie richtig aufgesetzt ist. In der Praxis sehen wir zu oft das Gegenteil: Beraterinnen und Berater, die vom Girokonto bis zum Fonds und zur Lebensversicherung „alles“ anbieten sollen, um intern anerkannt zu werden. Breite ersetzt Tiefe, der Verkaufsdruck ersetzt die Verantwortung. So entsteht keine Kundenbeziehung auf Lebenszeit, sondern Transaktionstheater. Korrektur bedeutet: klare Rollentrennung, Qualifikation vor Quote, Fachlichkeit vor Funnel.

Warum Rendite beim Versicherer oft höher wirkt als beim Kunden – und was daraus folgt

Lebensversicherer erwirtschaften auf der Kapitalanlageseite oft solide Erträge. Beim Kunden kommt davon weniger an – durch Abschlusskosten, laufende Verwaltung, Sicherheitsrückstellungen, Risikoprämien. In der Gesamtschau entsteht das Gefühl, der Versicherer verdiene planbarer als der Versicherte. Das mag im Kollektivsystem der Versicherung teils systemisch sein, kommunikativ ist es fatal. Wer das Vertrauen zurückgewinnen will, muss Nettorenditen in den Mittelpunkt stellen, Kosten brutal transparent machen und Produkte so bauen, dass sie auch ohne Finanzmathematik verstanden werden.

Betriebliche Altersversorgung: Fürsorge als Vergütungsbestandteil

Arbeitgeber haben Hebel. Eine ehrlich kalkulierte, kosteneffiziente bAV ist kein „Add-on“, sondern Vergütung in Zeitform. Wer als Unternehmen Willen und Budget zeigt, bAV zu einer rentablen, verständlichen Säule zu machen (Matching-Beiträge, Arbeitgeberzuschüsse über das gesetzliche Minimum, saubere Auswahl kostengünstiger Produkte), schafft Bindung, Reputation und sozialen Impact. bAV ist Employer Branding, Risikoprävention und Gerechtigkeitspolitik in einem.

Politik und Aufsicht: Prävention statt Nachsorge

Die Politik definiert Leitplanken: Produktregeln, Transparenzstandards, steuerliche Förderung. Wenn Vorsorge gesellschaftlich gewollt ist, müssen Anreize und Auflagen so gesetzt sein, dass das gute, kostengünstige Produkt den einfachen Weg hat – nicht das komplexe, teure. Die BaFin wiederum ist mehr als eine Feuerwehr. Sie braucht den präventiven Auftrag im Alltag, zum Beispiel

  • Vorab-Prüfung von besonders komplexen oder kostenintensiven Angeboten, die an Retail-Kunden gehen,
  • Datengetriebene Marktaufsicht mit Storno-, Beschwerde- und Leistungsindikatoren als Frühwarnsystem,
  • Transparenzoffensiven: vergleichbare Netto-Kostenkennzahlen und Nettorenditen pro Produktkategorie, leicht auffindbar für Verbraucher,

Aufsicht, die erst eingreift, wenn Auffälligkeiten eskalieren, ist zu spät. Prävention schützt Vertrauen – und kostet weniger als Sanierung.

Schluss: Rehabilitierung eines guten Gedankens

Die Lebensversicherung ist – in ihrer Idee – ein zivilisatorischer Fortschritt: Kollektivschutz gegen individuelle Lebensrisiken. Sie ist gescheitert, wo sie zum Verkaufstheater wurde, und sie wird gelingen, wo sie wieder Sinn stiftet: Hinterbliebene schützen, Alter absichern, Entscheidungen ermöglichen, die Menschen verstehen.

Kundinnen und Kunden werden Alternativen prüfen – Aktien, ETFs, andere Vorsorgewege. Das ist gut so. Wettbewerb diszipliniert. Wer als Lebensversicherer bestehen will, berät ehrlich, kalkuliert fair und liefert das, was versprochen wird. Politik und BaFin sorgen dafür, dass genau dieses Verhalten leichter wird als sein Gegenteil.
Vertrauen ist das knappste Kapital der Branche. Es entsteht nicht aus Hochglanzbroschüren, sondern aus präventiver Aufsicht, ehrlicher Beratung, verständlichen Produkten und ausbezahlten Versprechen. Eine Lebensversicherung als Produkt , das nicht hält, was es verspricht, ist kein Produkt sondern ein Betrug an der Zukunft. Eine Reform der Lebensversicherung ist überfällig.