Niederlande: Die Rente gibt’s als Cappuccino

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Die jüngste Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts (Destatis) machte es anschaulich: Die Alterung der Gesellschaft lässt sich nicht aufhalten. Auf 53 Prozent der Gesamtbevölkerung könnte bis 2060 der Anteil der Menschen im erwerbstätigen Alter schrumpfen. Hingegen wächst der Anteil der Menschen im Rentenalter auf 30 Prozent.

Für die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung (GRV) bedeuten solche Zahlen: Beiträge werden steigen, das Rentenniveau hingegen wird sinken. Altersarmut droht großen Teilen der Bevölkerung. Eine demografische Krise (der Versicherungsbote berichtete).

Nachbar Niederlande: Erstaunlich immun trotz alternder Gesellschaft

Reformen des deutschen Rentensystems sind demnach dringend geboten. Wie aber dem einstigen Erfolgsmodell mit seinem „Generationenvertrag“ auf die Beine helfen? Für Lösungen wird immer häufiger ein Blick zu einem Nachbarland empfohlen. Dieses besitzt nicht nur ein äußerst leistungsfähiges, sondern auch nachhaltiges Rentensystem und scheint besser auf die demografische Entwicklung eingestellt. Zudem verheißt das Rentensystem, statt einer bitteren Leistungs-Entzugskur, ein „Cappuccino-Modell“. Zur Verheißung wird immer mehr das Rentensystem der Niederlande.

Lob des niederländischen Rentensystems scheint mittlerweile Konsens – sowohl arbeitnehmernahe Akteure wie die Gewerkschaft Ver.di als auch die arbeitgebernahe Lobby-Organisation INSM empfehlen Reformen, die sich daran orientieren. Im Melbourne Mercer Global Pension Index, einem Ranking weltweiter Rentensysteme, steht das niederländische Rentensystem schon zum zweiten Mal auf Rang eins (der Versicherungsbote berichtete). Grund genug für den „Versicherungsboten“, einmal genauer zum europäischen Nachbarn zu schauen.

Das „Cappuccino-Modell“ der Niederlande

Folgendermaßen erklären die Niederländer anhand einer beliebten Kaffee-Spezialität ihr Rentensystem: Grundlage und damit „Kaffee“ ist die obligatorische staatliche Alterssicherung AOW, die „Algemene Ouderdomswet“. Diese sichert jedem, der länger als ein Jahr in den Niederlanden wohnte, Teilansprüche einer Mindestrente. Hat ein Rentner nach 50 Jahren das volle Anrecht auf diese staatliche Alterssicherung erworben, erhält er etwa 70 Prozent des Mindestlohns als monatliche Rente ausgezahlt. Freilich aber: Im Sinne des Sprachbildes empfiehlt es sich keineswegs, den Kaffee schwarz zu trinken. Die Milch im Renten-Rezept der Niederländer entstammt den Betriebsrenten, die eine weite Verbreitung erfahren. Damit aber das Rezept endgültig gelingen darf, fehlt auf dem „Renten-Cappuccino“ noch das Sahnehäubchen all jener privaten und kapitalgedeckten Vorsorgeprodukte, die nicht in den Bereich der Betriebsrenten gehören.

Die staatliche Alterssicherung AOW

Könnte man nach Aufzählung dieser Bestandteile – einem Mix aus staatlicher Rente, Betriebsrente und privaten Vorsorgeprodukten – noch durchaus Gemeinsamkeiten mit dem deutschen Rentensystem sehen, offenbaren sich auf dem zweiten Blick Unterschiede. Anders nämlich als Deutsche betrachten es die Niederlande nicht als Aufgabe des Staates, durch Rentenzahlungen ein gewisses Niveau des vorherigen Verdiensts zu sichern. Demnach wird die Rentenhöhe, anders als in Deutschland, auch nicht von einem bestimmten Prozentsatz des früheren Arbeitseinkommens sowie von eingezahlten Beiträgen abhängig gemacht, sondern von der Versicherungszeit. Grundbedingung für AOW-Ansprüche ist einzig der Wohnsitz in den Niederlanden für länger als ein Jahr.

Für jedes Jahr baut man zwei Prozent des Anspruchs für den vollen Leistungsbetrag auf. Nach 50 Jahren erreicht man 100 Prozent des Renten-Anspruchs. Bei geringerer Versicherungszeit werden hingegen entsprechende Prozente abgezogen (pro Jahr fehlen dann zwei Prozent der vollen Rente). Hat jemand über seinen Wohnsitz Rentenansprüche erworben, erhält er eine AOW-Rente, sobald er das AOW-Eintrittsalter überschritten hat – sogar, wenn er im Ausland lebt. Ein früherer Bezug der Rente ist hingegen ausgeschlossen.

Lange lag das AOW-Eintrittsalter bei 65 Jahren. Da jedoch auch die Niederlande den demografischen Wandel zu spüren bekommen, wird dieses Alter schrittweise angehoben. In 2018 lag es bei 66 Jahren, wird im Jahr 2023 bei 67 Jahren und drei Monaten liegen.

Nach Überschreiten der Altersgrenze wird die Leistung bedingungslos gezahlt, das heißt: ohne Bedürftigkeitsprüfung. Jeder erhält die gleiche Leistung. Unterschiede gibt es nur nach der Form des Zusammenlebens. Die Webseite des für die AOW-Leistung verantwortlichen Sozialversicherungsträgers – zuständig ist die Sociale Verzekeringsbank (SVB) – benennt für eine alleinstehende Person derzeit eine Bruttorente in Höhe von 1.228,22 Euro und eine Nettorente in Höhe von 1.158,22. Müssen doch auf die Bruttorente noch Krankenbeiträge nach dem niederländischen Krankenversicherungsgesetz (Zvw) gezahlt werden. Bei Paaren sinkt der Rentenbetrag. Pro Person besteht hier Anspruch auf 795,69 Euro netto, falls beide Partner schon das Rentenalter erreicht haben.

Finanziert wird die AOW-Leistung einzig durch Beiträge von Arbeitnehmern und Selbstständigen. Arbeitgeber werden hingegen nicht beteiligt. Fällt die Rente zu gering aus, zum Beispiel aufgrund zu kurzer Versicherungszeiten, kann eine zusätzliche Sozialleistung beantragt werden. Sozialhilfe in den Niederlanden liegt jedoch unterhalb des AOW-Rentenniveaus, wird zudem steuerfinanziert. Sowohl Systeme der Sozialhilfe als auch die Hinterbliebenenversorgung (nach Art der deutschen Witwen- oder Waisenrente) sind in den Niederlanden strikt vom AOW-Rentensystem getrennt.

Der „Milchschaum“ aus dem Cappuccino- System: die betriebliche Altersvorsorge

Betrachtet man die umlagefinanzierte AOW-Rente für sich, will das Rezept wenig munden. „Dünner Kaffee“ wäre dann wohl, im Sinne des Sprachbilds, vorgesetzt. Denn zwar wird die Rente bedingungslos gezahlt. Sie sichert jedoch nur ein geringes Versorgungsniveau, das vergleichbar ist mit der Grundsicherung in Deutschland. Das Geheimnis des niederländischen Erfolgs jedoch liegt am zweiten Bestandteil – bildlich gesprochen an einer großen Menge Milchschaum. Denn weit verbreiteter als in Deutschland ist in den Niederlanden die betriebliche Altersvorsorge. Sogar das Versorgungsniveau von Beamten und Angestellten des Öffentlichen Dienstes wird jenseits der AOW-Leistung durch einen 1996 privatisierten Pensionsfonds abgesichert, dem „Stichting Pensioenfonds ABP“. Hingegen existiert in den Niederlanden keine den deutschen Beamtenpensionen vergleichbare Leistung durch den Staat.

Betriebsrenten sind in den Niederlanden ein gängiger Bestandteil des Lohnes geworden

Zahlen und Fakten für die kapitalgedeckte betriebliche Altersvorsorge der Niederlande liefert ein Papier des Mannheimer Zentrums für europäische Sozialforschung. So schuf sich der niederländische Staat durch zwei Gesetze – das „Wet verplichte deelneming in een bedrijfspensioenfonds“ (BPF) aus dem Jahre 1949 sowie das „Pensioen- en Spaarfondsenwet“ (PSW) aus dem Jahr 1954 – die Möglichkeit, für einzelne Branchen die Teilnahme an einem Branchenfonds allgemeinverbindlich vorzuschreiben. Auch für Unternehmenspensionsfonds als gleichfalls wichtige Akteure der betrieblichen Altersvorsorge sichert der gesetzliche Rahmen eine weite Verbreitung der Betriebsrenten. Denn Bedingungen für Betriebsrenten handeln in den Niederlanden die Tarifpartner aus, Betriebsrenten werden integraler Bestandteil der Tarifverträge. Die Tarifverträge erfassen wiederum viele Beschäftigte und Beschäftigungsgruppen. Obwohl demnach kein allgemeingültiges Gesetz existiert, das den Arbeitnehmern eine Teilnahme an der betrieblichen Altersvorsorge vorschreibt, verfügen mehr als 91 Prozent der aktiven Arbeitnehmer und 50 Prozent der Rentner über eine Zusatzrentenregelung bzw. beziehen eine Betriebsrente. Sie sind in den Niederlanden ein gängiger Bestandteil des Lohnes geworden.

Die Beiträge beziehungsweise Prämien werden durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam geschultert. Weil die Vorsorgeeinrichtungen nicht gewinnorientiert arbeiten, sie zudem wesentlich von Skaleneffekten profitieren, werden Kosten niedrig gehalten. Die Pensionspläne sind überwiegend leistungsorientiert und garantieren demnach einen bestimmten Prozentsatz des durchschnittlichen Lohns (z.B. 70 Prozent) als Rente.

Sowohl „Unternehmenspensionsfonds“ als auch "obligatorische Betriebs- und Branchenpensionsfonds“ dominieren als wichtigste Akteure, wie Zahlen (wenngleich mit Stand für Beginn des 21. Jahrhunderts) zeigen. Der Begriff der „Unternehmenspensionsfonds“ darf jedoch nicht falsch interpretiert werden. Handeln die Fonds doch finanziell und rechtlich von den Unternehmen getrennt. Die Statistik offenbart für die zwei wichtigsten Typen ein widersprüchliches Verhältnis: Wenngleich nämlich 88,6 Prozent der Fonds Unternehmenspensionsfonds sind, haben diese nur 15,6 Prozent der Mitglieder. Hingegen stellen die obligatorischen Betriebs- und Branchenpensionsfonds nur 7,4 Prozent aller Fonds, haben jedoch 78,6 Prozent aller Mitglieder. Der größte Teil der Niederländer ist demnach über „obligatorische Betriebs- und Branchenfonds“ versichert.

Einer der Fonds ist ein wahrer Riese: Der bis 1996 öffentlich-rechtliche und nun als private Stiftung agierende Pensionsfonds ABP zählt mit einem Anlagevolumen von aktuell 431 Milliarden Euro laut Private Banking Magazin zu den drei größten Pensionseinrichtungen auf dem Erdball.

Das „Sahnehäubchen“ als Problem: Die geringe Bedeutung der privaten Altersvorsorge

Welche Bedeutung aber spielt das Sahnehäubchen für den Renten-Cappuccino der Niederländer? Sprich: Welche Bedeutung haben zusätzliche Produkte der kapitalgedeckten privaten Vorsorge jenseits der Betriebsrenten? Den Vermittlern in Deutschland sei kundgetan: Zumindest für die Branche bietet das „Cappuccino-Modell“ alles andere als eine attraktive Alternative. Zwar sind zusätzliche Marktsegmente der privaten Altersvorsorge in den Niederlanden äußerst wichtig für Selbstständige. Jedoch: Ansonsten hat die private Altersvorsorge jenseits der Betriebsrenten „keine große Bedeutung“, wie ein Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung eher vorsichtig pointiert.

Das hat seinen Grund. Denn niederländische Betriebsrenten beinhalten häufig auch einen Versicherungsschutz gegen die Folgen von Tod, Alter und Invalidität. Somit brechen schon aufgrund des übermächtigen Konkurrenten wichtige Marktsegmente weg. Die kapitalgedeckt finanzierte Betriebsrente lässt anderen kapitalgedeckten Vorsorgeelementen nur wenig Raum.

Das „Cappuccino-Modell“ als richtige Medizin für Deutschland?

Vielleicht erscheint es aus dieser Sicht beruhigend für die Branche, dass in Deutschland kaum eine Übernahme des niederländischen Vorsorgemodells auf kurze Frist vorstellbar ist. Denn zum einen müssten die Beamtenpensionen komplett abgeschafft werden. Ein solcher Schritt dürfte jedoch auf großen politischen Widerstand stoßen. Zum Zweiten müsste das Prinzip der Teilhabeäquivalenz komplett abgeschafft und auf eine bedingungslose Grundrente ohne Bedarfsprüfung umgestellt werden. Beides aber ist durch die deutsche Regierung derzeit nicht geplant und ließe sich auch nur über mehrere Generationen hinweg umsetzen. Selbst der Plan einer so genannten „Respekt-Rente“ von Hubertus Heil beruht wesentlich auf dem Prinzip der Teilhabeäquivalenz und belohnt mit der Lebensleistung eine lange Beitragszahlung – wenngleich mit Verzicht auf eine Bedarfsprüfung (der Versicherungsbote berichtete).

Hinzu kommt: Der niederländische Staat kann sich auch deswegen über die Immunität seines Rentenmodells freuen, weil alle Anpassungslasten des demografischen Wandels in den Niederlanden über leistungsfähige kapitalgedeckte Vorsorgesysteme aufgefangen werden. Auf diesen Aspekt weist eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (iW) hin. Die Leistungsfähigkeit verdankt sich jedoch auch einer langen Existenz unter günstigen Bedingungen – der größte niederländische Fonds ABP existiert zum Beispiel schon seit 1922 und profitierte in den Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich von seiner Mitgliederstruktur. Deutschland jedoch müsste erst vergleichbare Systeme schaffen – und zwar zu Bedingungen, die sofort eine Belastung durch den demografischen Wandel mit sich bringen. Derartige Probleme lassen fragwürdig erscheinen, ob der niederländische Cappuccino tatsächlich als schnelle Medizin für Deutschland geeignet ist.