Versicherungsbote: Herr Brandt, was verstehen Sie unter dem Begriff „Betriebliches Gesundheitsmanagement“? Und warum bietet es die MEDICA-Klinik an?

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Jörg Brandt: Betriebliches Gesundheitsmanagement ist nach meiner Ansicht vor allem Prävention. Und der Gedanke, dass Prävention notwendig ist, entwickelt sich langsam, aber stetig mit dem zunehmenden Arbeitskräftebedarf und den steigenden Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitnehmer in Deutschland. Man hat erkannt, eben weil man keine unbegrenzten Ressourcen zur Verfügung hat, dass man seine Arbeitnehmer gesund erhalten muss. Das ist aus meiner Sicht in sozialer Hinsicht etwas ausgesprochen Begrüßenswertes.

Es ist zwar ein bisschen traurig, dass dies aus ökonomischen und betrieblichen Notwendigkeiten heraus entsteht und nicht aus einem Bewusstsein. Aber immerhin, der Grund mag egal sein, im Sinne des Arbeitnehmers ist es wenigstens im Entstehen. Es gibt sehr viele Länder, insbesondere im Norden Europas, die uns da voraus sind und schon lange Arbeitsbedingungen schaffen, die – sagen wir mal – den humanen Ressourcen auch angemessen sind. Denn was nutzt ihnen ein gut ausgebildeter Mitarbeiter, wenn er drei Monate im Jahr krank ist?

Versicherungsbote: Nun könnte doch ein Arbeitgeber sagen, Gesundheit ist eigentlich das, worum sich jeder individuell kümmern muss. Warum soll sich ein Arbeitgeber um die Gesundheit seiner Mitarbeiter kümmern?

Jörg Brandt: Damit hätte der Arbeitgeber zunächst Recht! Aus meiner Sicht ist die Gesunderhaltung eine oberste Bürgerpflicht, weil natürlich jeder selbst für sich verantwortlich ist. Wir wissen heute alle, dass in den Industriegesellschaften viele gesundheitliche Probleme daher kommen, dass die Leute nicht darauf achten, wie sie sich ernähren, wie sie sich bewegen, wie sie ihre „physische Hygiene“ im weiteren Sinne umsetzen. Aber es ist auch nicht zu übersehen, dass Arbeit in der Verdichtung, die sie heute hat, krank machende Potentiale besitzt. Und die entstehen aus der Vielzahl an Anforderungen, auch aus der fehlenden Ruhe- und Erholungsphase bei einem Großteil der berufstätigen Bevölkerung. Es wird heute gefordert, dass ein Arbeitnehmer mobil sein muss, das heißt, er fährt am Tag schon mal eine oder sogar zwei Stunden auf Arbeit. Das bedeutet für ihn bereits einen extremen Stress auf Autobahnen und im Stau. Die Arbeit erfordert zeitliche Flexibilität, oft auch Schichtarbeit, Einsätze am Wochenende: ein unphysiologischer Tagesrhythmus ist immer eine erhebliche Belastung. All das sind Faktoren, die die Regeneration des Menschen sehr stark fordern und psychische Stressoren darstellen.

Versicherungsbote: Die MEDICA-Klinik bietet intensiv das Betriebliche Gesundheitsmanagement an. Was können Sie am Arbeitsplatz bewirken? Sie gehen ja auch in die Betriebe und schauen sich die Arbeitsplätze an.

Jörg Brandt: Es läuft tatsächlich so, dass wir mit unseren Experten eine Arbeitsplatzanalyse vor Ort vornehmen, immer in Übereinstimmung mit dem Arbeitgeber, der uns diese Möglichkeiten einräumen muss. Wir gehen dann in die Betriebe, schauen uns die Arbeitsplätze an, analysieren sowohl ergonomische Faktoren – das heißt beispielsweise, wie ist der Arbeitsplatz angeordnet, damit die physische Belastung möglichst gering ist? Und wir schauen uns an, wie ist die Arbeitsdichte, wie ist die psychische Belastung? Wir führen Gespräche mit den Arbeitnehmern und ihrem Kollektiv, weil die Einzelmeinung natürlich subjektiv gefärbt ist.

Was der eine als extrem belastend empfinden mag, das ist für andere überhaupt kein Problem. Aber das bedeutet gerade Sensibilität im Umgang mit dem Thema „individueller Arbeitsplatz“: Dass man die Belastung des Einzelnen wahrnehmen muss, viele Einzelmeinungen sammelt und daraus ein Bild der allgemeinen Arbeitsbelastung aufbaut. Man nennt das dann Arbeitsplatzprofil. Und dann muss man versuchen, wieder herunterzubrechen auf den einzelnen Arbeitnehmer und zu fragen: Was kann man ändern, damit möglichst für jeden eine geringere und angemessene Arbeitsbelastung erreicht werden kann? In Betrieben, die heute bereits Gesundheitsmanagement betreiben, wird das nicht nur von der Belegschaft positiv wahrgenommen, sondern spiegelt sich unmittelbar im sinkenden Krankenstand wieder.

Versicherungsbote: Zukünftig sollen alle Menschen bis zum 67. Lebensjahr arbeiten, um die Rentenkassen zu entlasten. Was kann betriebliches Gesundheitsmanagement speziell für ältere Arbeitnehmer leisten? Wie realistisch ist es eigentlich, dass jemand, der ein Leben lang an der Rüttelplatte stand, bis 67 noch arbeiten geht?

Jörg Brandt: Aus ärztlicher Sicht ist die Rente mit 67 Jahren keine kluge Entscheidung, weil das physische Leistungsvermögen – das ist wissenschaftlich gut belegt – jenseits des 60. Lebensjahres stark abnimmt. Es mag Senioren geben, die sehr fit sind. Aber die physische Leistungsfähigkeit und auch die Fähigkeit, Stressoren in allen Bereichen zu ertragen und zu kompensieren, wird schwächer. Ich glaube, gerade in dieser Hinsicht ist es wichtig, dass man sich um den älteren Arbeitnehmer besonders kümmert. Er hat etwas sehr Positives in die Waagschale zu werfen: seine berufliche und menschliche Erfahrung. Man lernt auch in modernen Industriegesellschaften langsam wieder, dass diese Erfahrung sehr viel Positives bewirken kann und ein unglaubliches Potential in sich trägt. Und die Menschen, die so lange gearbeitet haben und der Gesellschaft etwas gegeben, die haben natürlich auch ein Recht darauf, ihre Altersphase bei guter Gesundheit zu genießen. Das darf man nicht vergessen.

Versicherungsbote: Mein persönlicher Eindruck ist, die Alterung der Gesellschaft wird mit einem großen Fatalismus diskutiert. Statt einer „Generation Golf“ wird nun eine „Generation Demenz“ oder „Generation Rollator“ beschworen. Krankheiten wie Demenz bestimmen die demografische Debatte. Hat man auch deshalb verpasst, ältere Arbeitnehmer besser in die Unternehmen zu integrieren?

Jörg Brandt: Da teile ich ihre Auffassung. Heute besteht eine Dissoziation zwischen Jugend und Alter, die es in allen Gesellschaften vor uns nicht gegeben hat. Da war es selbstverständlich, dass ein alter Mensch in das gesellschaftliche Leben integriert war, auf dem Feld oder im Handwerksbetrieb mitgearbeitet hat. Sie sehen das heute häufig bei Familienbetrieben: Im Handwerk wird auch der Großvater mit 70 noch in die Werkstatt gehen und wird, wenn er vielleicht nicht mehr selber arbeiten kann, den Jüngeren mit Rat und Tat zur Seite stehen.

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Aber es ist in vergangenen Zeiten auch so gewesen, dass die alten Menschen sich so belastet haben, wie sie das selber für sich verantworten konnten. Heute hingegen werden ältere Menschen an den selben Leistungsanforderungen gemessen wie der jugendliche Arbeitnehmer. Und da müssen wir unsere Maßstäbe den Realitäten anpassen. Das ist – glaube ich – ein Lernprozess, den wir derzeit durchlaufen. Für mich ist es sehr positiv, dass alte Menschen wieder mehr integriert werden und wir ihre Erfahrungen nutzen. Aber man muss auf das begrenzte Leistungsvermögen Rücksicht nehmen. Zum Beispiel, indem man die körperliche Belastung minimiert, längere Pausen einräumt, auch die Möglichkeit bietet sich sportlich zu betätigen. Wir wissen heute aus psychologischen Studien, dass Bewegung auch im Alter die geistige Leistungsfähigkeit steigert.

Betriebliches Gesundheitsmanagement auch für Arbeitslose?

Versicherungsbote:Wie sind ihre Erfahrungen in der Kooperation mit Versicherungen, mit Krankenkassen und Krankenversicherungen? Zeigen sie sich offen für Betriebliches Gesundheitsmanagement?

Jörg Brandt: Die großen Krankenkassen in Deutschland stellen sich sehr positiv zur Prävention. Übrigens auch unsere Rentenversicherungsträger. Wir haben in Mitteldeutschland ein sehr gutes Beispiel mit Programmen, mit denen auch die Rentenversicherung versucht, präventiv tätig zu sein. Das darf sie natürlich aus ihren gesetzlichen Rahmenbedingungen heraus heute nur in einem begrenzten Umfang. Aber sie tut es dennoch und ist da – gerade die Rentenversicherung Mitteldeutschland – mit Modellprojekten modern und zukunftsorientiert. Auch die Krankenversicherungen haben erkannt, dass sie mit Prävention am Ende viel Geld sparen können, wenn sie das Geld vorher in kleinen Mengen ausgeben statt zu warten, bis ihre Versicherten so krank sind, dass die Heilungskosten exorbitant steigen. Wir haben sehr positive Erfahrungen gemacht mit allen großen Versicherungen wie der AOK, der Barmer GEK oder auch der DAK.

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Versicherungsbote: Gibt es Kooperationen mit den Arbeitsagenturen? Man könnte ja argumentieren: Das, was für Betriebe gut ist, müsste auch für Arbeitslose und Langzeitarbeitslose gut sein. Dass man etwa Gesundheitskurse anbietet, die Menschen in ihrem Selbstbewusstsein stärkt, die Arbeitslosen unterstützt, etwas für die körperliche und geistige Fitness zu tun.

Jörg Brandt: Wir sind gerade dabei, das auszuloten. Ich halte das aber für ein wichtiges und noch unbeackertes Feld. Ich glaube, es wird für unsere Arbeitslosen und Langzeitarbeitslosen wenig in Richtung Motivation, Arbeitstraining und psychologische Unterstützung getan. Heute zielen die Maßnahmen der Arbeitsämter vor allem auf Qualifikation, und zwar häufig leider unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer mit diesen angebotenen Qualifikationsmaßnahmen überhaupt eine Chance hat. Hier gilt, dass es nicht unser Ziel sein kann, den Arbeitslosen einfach zu beschäftigen. Sondern, dass man wirklich sehr problem- und individuell orientiert analysieren muss: Was kann er leisten? Warum ist er nicht in den Arbeitsmarkt integriert? Mit welchen psychischen und sozialen Bedingungen kommt ein Arbeitsloser, wie ist seine Motivationslage? Das kann man heute wissenschaftlich untersuchen und sollte auf Grundlage dieses Profils aussuchen, wohin die Arbeitnehmerqualifizierung gehen soll. Man muss versuchen, jeden Menschen bei seinen Möglichkeiten zu packen und diese gezielt entwickeln. Das ist eine wichtige Aufgabe unserer Gesellschaft für die Zukunft.

Versicherungsbote: Ein Thema, das gerade aktuell diskutiert wird: Die sogenannte Bürgerversicherung. Die SPD will die private Krankenversicherung im Falle eines Wahlsieges abschaffen und alle Versicherungsnehmer verpflichten, in die gesetzliche Krankenversicherung einzutreten. Haben Sie Angst davor?

Jörg Brandt: Ich persönlich habe keine Angst davor, und wir als Gesundheitseinrichtung natürlich auch nicht. Ich halte es nur für den falschen Weg. Das ist meine persönliche Meinung, weil ich glaube, dass es die Probleme unseres Gesundheitssystems in keiner Weise vereinfachen wird. Zunächst einmal muss man sagen, dass der Standard der Gesundheitsversorgung in Deutschland extrem hoch ist. Ich habe das Gesundheitssystem in Entwicklungsländern wie Äthiopien, Vietnam oder Sudan kennengelernt und dort auch unterrichtet. In solchen Ländern kann man über die Probleme, die wir hier diskutieren, nur den Kopf schütteln. Und wenn man dort einmal ein Krankenhaus gesehen hat oder medizinisches Personal unterrichtet, weiß man, auf welch unvorstellbar hohem Niveau wir uns bewegen.

Es besteht von der Gesellschaft ein extrem hoher Anspruch an die Leistungsfähigkeit der Medizin. Aus moralischer Sicht ist es durchaus richtig, wenn man sagt: Der Mensch soll alles haben für seine Gesundheit. Auf der anderen Seite muss das Gesundheitssystem finanzierbar bleiben. Meiner Ansicht nach werden im Gesundheitswesen zu viele Dinge mitfinanziert, die nicht in eine Krankenversorgung gehören. Ist die Krankenversicherung verpflichtet alles zu leisten, bis hin zur Taxifahrt zum Arzt? Oder kann das nicht auch von Angehörigen und vom Versicherten selbst getragen werden? Da sind uns andere Länder wie die Schweiz voraus, die eine Dreiteilung der Gesundheitsversorgung realisiert hat. Da gibt es eine Art Bürgerversicherung für jeden, aber damit werden wirklich nur medizinische Grundbedürfnisse – etwa die Notfallversorgung – abgesichert. Es gibt eine betriebliche Gesundheitsversicherung, in die der Arbeitgeber mit einzahlt. Und alle Leistungen, die nicht für die lebensnotwendigen Funktionen notwendig sind, muss eben der Bürger selbst versichern. Das ist ein Modell, das ich auch in Zukunft für finanzierbar und ökonomisch sinnvoll halte.

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Vielen Dank für das Gespräch!

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