Versicherungsbote: Die R+V hat einen autonomen Kleinbus für den öffentlichen Straßenverkehr zugelassen, der aus Ihrem „Innovation Lab“ kommt. Sind Sie bereits mitgefahren? Und saß ein Fahrer hinter dem Steuer, oder fährt das Fahrzeug komplett autonom?

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Verena Reuber: Die Zulassung haben wir im April 2018 erhalten. Und seitdem bin ich bereits mehrfach mitgefahren, sowohl während der Testfelder in Frankfurt, Marburg und Mainz als auch mit vielen Kollegen bei uns, am Hauptsitz in Wiesbaden. Eine Begleitperson muss aus rechtlichen Gründen immer mit an Bord sein, damit die Technik bei Bedarf stets vom Menschen übernommen werden kann. Allerdings sitzt dieser Operator nicht klassisch am Steuer – es gibt weder Lenkrad, noch Pedalerie. Gesteuert wird – wenn notwendig – über einen Controller.

Verena Reuber ist Projektleiterin autonomes Fahren im R+V Innovation Lab.Ganz naiv gefragt: Wieso unterstützt ein Versicherer die Entwicklung autonomer Fahrzeuge? Sie erhoffen sich ja sicher auch Erkenntnisse für Ihr Kerngeschäft.

Wir fokussieren uns mit unserem Forschungsprojekt nicht auf die Entwicklung autonomer Fahrzeuge, sondern auf deren Funktionsweise und Einsatzmöglichkeiten. In den nächsten Jahren werden wir eine zunehmende Automatisierung unserer Fahrzeuge erleben. Das wird neue Chancen und Risiken hervorbringen. Und auf diese wollen wir vorbereitet sein. Mit dem Betrieb der hochautomatisierten Kleinbusse sammeln wir jetzt bereits Erfahrungen und können uns so auf die Kundenansprüche der Zukunft einstellen.

…mit wem kooperieren Sie beim Entwickeln und Testen des Fahrzeuges?

Wir haben die Fahrzeuge vom französischen Hersteller Navya gekauft. Mit Navya befinden wir uns im regelmäßigen Austausch, da für den Betrieb – sowohl für die Inbetriebnahme als auch das Fahren – auf die Technik und Expertise des Herstellers zurückgegriffen werden muss.

Die Testfelder haben wir mit diversen Partnern umgesetzt. Prominent zu nennen sind hierbei der Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport, der Industriepark-Manager Pharmaserv aus Marburg sowie die Mainzer Mobilität. Was das automatisierte Fahren betrifft, hatte jeder von ihnen eigene Zielsetzungen und Fragestellungen, so dass die Anwendungsfälle divers waren und wir gemeinsam einiges untersuchen konnten.

Ich nehme an, Sie testen das Fahrzeug bereits im öffentlichen Verkehr. Wo und wie ist das Fahrzeug bzw. sind die Fahrzeuge unterwegs? Wie sind die bisherigen Erfahrungen?

Die Fahrzeuge haben bisher vier Testfelder absolviert, zwei davon fanden im öffentlichen Raum von Wiesbaden und Mainz statt. Wir haben die Shuttle zuvor auf Privatgeländen, am Frankfurter Flughafen und an den Behringwerken in Marburg eingesetzt.

Die Erfahrungen sind durchweg positiv. Die Shuttle werden sehr gut angenommen. Wissenschaftliche Begleitungen der Testfelder durch die Universitäten von Marburg und Mainz zeigen hohe Akzeptanzwerte, auch Menschen mit anfänglichen Berührungsängsten sind nach der Fahrt begeistert und fühlen sich sicher. Die Shuttle haben sich auch recht problemlos in den trubeligen Verkehr am Frankfurter Flughafen integriert. In Mainz war es vor allem der Querverkehr, der uns interessiert hat. Da haben wir dann aber auch einige Schwachstellen der aktuellen Technik ausmachen können.

Wie wird sich autonomes Fahren auf die Unfallhäufigkeit auswirken?

Nachweislich ist der Mensch Unfallursache Nummer 1 auf den Straßen, vor allem die Ablenkung macht uns gefährlich. Da beim vollkommen autonomen Fahren der Mensch aus der Gleichung genommen wird, kann man davon ausgehen, dass die Unfallhäufigkeit sinken wird.

Autonomes Fahren bedeutet, dass es weit stärker von der Fahrzeugtechnik abhängt, wenn es zu einem Unfall kommt und Menschen verletzt oder gar getötet werden. Wer haftet dann in der Kfz-Versicherung? Ein Fahrer? Oder kann die Haftung auch auf die Fahrzeughersteller übergehen?

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Aktuell ist es so, dass aus Rechtsgründen immer noch ein Mensch die Systeme überwachen muss. Ein Mensch ist demnach weiterhin haftbar. Die Verschiebung hin zu einer Produkthaftpflicht wird immer wieder diskutiert. Bevor das jedoch zum Standard wird, müssen sowohl Gesetze als auch Technik umfassend weiterentwickelt werden.

"Ich persönlich finde die Vorstellung, dass die Technik mein Fahrzeug lenkt, nicht beunruhigend..."

Autonomes Fahren wird nur möglich sein, wenn die Fahrzeuge permanent Daten senden. Gerade bei privater Nutzung nicht unproblematisch. Wie kann verhindert werden, dass ein Spion ständig im Auto mitfährt und Daten missbraucht werden?

Dafür müssen technische Lösungen der Hersteller und Zulieferer Sorge tragen.

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Müssen mit Blick auf den Kfz- und Kaskoschutz Gesetze geändert und angepasst werden, um autonomes Fahren zu ermöglichen? Oder reichen die bisherigen Regeln zur Kfz-Versicherung bereits aus, um dies auf unseren Straßen zu ermöglichen?

Um autonomes Fahren zu ermöglichen, bedarf es diverser Gesetzesanpassungen. Aktuell muss immer noch ein Mensch an Bord sein, um gegebenenfalls eingreifen zu können. Derzeit ist der Versicherungsschutz absolut ausreichend. Unser Forschungsprojekt mit den autonomen Kleinbussen hilft uns, Erfahrungen für künftige Versicherungsmodelle zu sammeln.

Ich versuche mir eine Welt vorzustellen, in der ein Teil der Autos autonom fährt, ein anderer Teil ganz „klassisch“ mit einem aktiven Fahrer. Die Vorstellung, mehrere autonome Fahrzeuge stehen neben oder hinter mir an der Kreuzung, macht mir schon ein bisschen Angst. Noch eher ängstigt die Vorstellung, ich sitze in einem Bus ohne Fahrer. Vielleicht können Sie mir helfen: Warum sollte man der Technik vertrauen? Und was sind mögliche Fehlerfaktoren, dass es doch mal „kracht“?

Ich persönlich finde die Vorstellung, dass die Technik mein Fahrzeug lenkt, nicht beunruhigend. Wir steigen heute schon in Flugzeuge und U-Bahnen und wissen, dass die größtenteils im Autopilot unterwegs sind. Technik ist nicht abgelenkt, ist nicht müde, ist nicht in Gedanken oder alkoholisiert. Technik ist immer da. Während der Fahrer bspw. im Moment des Schulterblicks nur nach rechts hinten schauen kann, hat die Technik die gesamte Kreuzung im Blick und kann optimal reagieren. Das ist ein Sicherheitsgewinn für alle Verkehrsteilnehmer.

In diesem Mischverkehr können autonome Fahrzeuge aber nicht ihr gesamtes Potenzial ausspielen. Richtig sicher ist es erst, wenn die unberechenbare menschliche Komponente ersetzt ist. In diversen Zukunftsszenarien wird dafür plädiert, dass es getrennte Areale geben soll, um so den Mischverkehr, den es vermutlich noch viele Jahre geben wird, zu umgehen.

Autonomes Fahren könnte auch das Schadenmanagement revolutionieren: Sehr wahrscheinlich wird das Auto in der Lage sein, Unfalldaten live aufzunehmen und an den Versicherer quasi in Echtzeit zu übermitteln. Wie wirkt sich das auf den Prozess der Schadenbearbeitung aus? Ist der Beruf des Schadengutachters in Gefahr?

Schon jetzt werden über eCall und den Unfallmeldedienst des GDV Unfälle automatisiert gemeldet und teilweise erfasst — trotzdem ist der Gutachter weiterhin vonnöten. Die Schadenbearbeitung ist ein komplexes Gebiet. Da bedarf es im Bereich der künstlichen Intelligenz noch einiges an Weiterentwicklung. Den Beruf des Schadengutachters wird es also noch lange geben.

Autonomes Fahren wirft auch moralische Fragen auf. Situationen sind denkbar, in denen „entschieden“ werden muss, welche von zwei Parteien geschädigt wird: abhängig von der Programmierung des Fahrzeuges. Ein Beispiel: Ein Fahrzeug hat nur die Option, in den Graben zu steuern und damit die Fahrzeuginsassen zu gefährden, oder aber in eine Gruppe Radfahrer hineinzusteuern. Beschäftigen Sie sich auch mit solchen Fragen?

Für diese Dilemma-Diskussion hat die Ethik-Kommission im Sommer 2017 Leitlinien für die Entwicklung automatisierter Fahrsysteme vorgestellt.

Die Fragen stellte Mirko Wenig

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