Betagte Versicherungsvorstände verweisen in Vorträgen immer wieder auf das Argument: Bei Versicherungen handele es sich um ein Produkt, dass von Menschen nicht gekauft würde, sondern durch eine geschickte Vertriebsmannschaft dem Kunden verkauft werden müsse. Deshalb sei persönliche Beratung auch langfristig unersetzbar: Das Argument war unter anderem bei der Elefantenrunde der Leitmesse DKM 2018 mehrfach zu hören. Mit Verlaub: Das ist jedoch Quatsch. Dass Versicherungen aktiv nicht nachgefragt werden, ist keineswegs ein Naturgesetz. Wer an solchen Konzepten festhält, hat nicht gemerkt, wie stark sich die Welt in den letzten fünf bis sieben Jahren geändert hat.

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Kunden reißen uns Versicherungen aus einem einzigen Grund nicht aus der Hand: Weil wir als Industrie schlichtweg schlechte Arbeit machen. Absolut nichts spricht dafür, warum Menschen mit Begeisterung ihr hart verdientes Geld für große Metallkisten auf Rädern oder klobige Apparate zum Versenden von Text, Bild und Videonachrichten verbrennen. Sie tun es trotzdem: Denn sowohl die Auto- als auch die Handy-Industrie hat es mit guter Produktentwicklung, Branding und Social-Media-Arbeit geschafft, die Herzen, den Lifestyle und die Portemonnaies der Menschen zu erobern.

Warum sind wir kein integraler Bestandteil des Kunden-Lebens?

Mir ist bisher noch kein Argument begegnet, warum dies nicht auch bei Versicherungs- und Finanzprodukten funktionieren sollte. Im Gegenteil: Versicherungen sind eigentlich dazu prädestiniert, integraler Bestandteil des täglichen Lebens der Kunden zu sein. Als Industrie unterstützen wir - gemeinsam mit Banken - Aufbau und Management von Vermögen. Vielmehr: Wir schützen es mit Absicherungskonzepten gegen die Risiken des Lebens. Wir schützen Vermögen, Gesundheit von Individuum und Familie. Welcher Vater und welche Mutter denken nicht täglich an die Gesundheit ihrer Kinder? Wer möchte nicht in Sicherheit und Wohlstand leben?

Bei solchen Themen dürften Autos und Handys eigentlich keine Chance haben. Allerdings ist das Gegenteil der Fall. Dies hat einen Grund: Wenn unsere Kunden an Sicherheit und Wohlstand denken, werden wir als Teil der Lösung schlichtweg nicht wahrgenommen. Denn wir begnügen uns in vielen Fällen damit, einmal im Jahr Beitragsanpassungen - bevorzugt auf Papier per Post - zu schicken, mit der Hoffnung, der Kunde weiß nichts von seinem Sonderkündigungsrecht.

Im besten Fall melden sich Vertriebler, wenn der Kunde ins Fadenkreuz einer x-beliebigen Ausschreibung gekommen ist und man hofft, ihm für die letzten Punkte und Stücke noch ein paar Produkte umhängen zu können. Im digitalen Direktvertrieb dominiert marktschreierische Produktwerbung. Auch dort helfen wir dem Kunden nicht täglich, Sicherheit und Wohlstand zu erreichen, zu gewährleisten oder auszubauen. Nein, wir fokussieren uns häufig darauf, beim Kunden den Bedarf für solche Produkte zu wecken, die uns als Unternehmen oder Vertriebler helfen unsere Vertriebsziele zu erreichen. Weil es so selten eine Übereinstimmung zwischen Kundeninteresse und Vertriebszielen gibt, müssen allerlei “verkaufspsychologischen Grundsätzen” bemüht, Bedarfe und Versicherungslücken aufgezeigt werden.

Die Chancen künstlicher Intelligenz

Wir als Industrie, als einzelne Unternehmen oder auch als einzelner Mitarbeiter müssten systematisch die Best Practices und Lessons Learned anderer Industrien, die sich erfolgreich als Teil des täglichen Lebens ihrer und unserer Kunden etabliert haben, anwenden. Wir müssen - wie die Auto- und Telekommunikations-Industrie - die tägliche Aufmerksamkeit des Kunden durch exzellente Produkte und Services, User Experience und modernes Marketing erreichen.

Hierzu gehört natürlich auch eine durch künstliche Intelligenz getriebene Beratung. Wer sich ernsthaft mit der technologischen Entwicklung befasst, dem wird klar, dass selbstverständlich die meisten - wenn nicht gar alle - Versicherungsprodukte ab einem gewissen Zeitpunkt durch Algorithmen ohne menschliche “Bedarfsweckung” auf der Couch des Endkunden gekauft werden.

Diese werden sich aber vom Verkauf auf der Wohnzimmercouch oder im Unternehmerbüro unterscheiden. Neue digitale Produkte und Services werden dem Kunden echte Mehrwerte bieten und ihn in seinem Leben helfen und nicht “auf den richtigen Moment für den Verkaufsabschluss” warten und so Vertrauen aufbauen. Es ist dieses Vertrauen in die Produkte und den Service, die Apple, Google und Amazon zu den wertvollsten Unternehmen der Welt gemacht haben.

Wir hingegen gehören zu den unbeliebtesten Branchen des Landes. Dies müsste nicht sein. Auch wir könnten exponentiell wachsen, wenn wir dem Kunden echte digitale und analoge Produkte und Services böten, die ihn in seinem täglichen Leben helfen würden. Dann würde etwas völlig Verrücktes passieren. Der Kunde käme plötzlich zu uns. Einfach so. Weil er uns für Experten im Management der Risiken seines Lebens wahrnehmen würde.

Dies zu erreichen ist jedoch nicht einfach. Das kostet Zeit, Ressourcen und bedarf radikalen Änderungen in der Arbeitsweise und in der Kernorganisiation unserer Häuser. Da ist es natürlich einfacher immer wieder das Mantra zu bemühen, Versicherungen würden halt nicht gekauft, sondern müssten verkauft werden. Dann muss man halt auch nichts ändern.
Apple, Samsung oder BMW kommen aus dem Lachen nicht mehr heraus.

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Dr. Robin Kiera gilt als eine der international bekanntesten Insurtech Experten. Er ist Gründer von Digitalscouting.de.

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