Das Armutsrisiko und damit auch die Armutsgefährdungsquote ist eine seltsame statistische Größe, mit der die relative Einkommensverteilung erfasst werden soll. Wenn in einem Land es allen Menschen gleichermaßen schlecht gehen würde, wäre das relative Armutsrisiko gering: Weil es sich ja aus den mittleren Einkommen errechnet.

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Auch kann die Armutsgefährdung sinken, ohne dass es irgendjemandem in der Bevölkerung besser geht. Zum Beispiel, wenn der Mittelstand weniger verdient, aber die unteren Einkommensgruppen nicht gleichermaßen verlieren. Selbst das Statistische Bundesamt betont, dass diese Daten „nicht sehr robust“ seien – schon kleine Schwankungen der Einkommen könnten viel ändern. Mit anderen Worten: Die Zahlen bedürfen einer ausführlichen Interpretation. Schon die Frage, wie man die Armutsgefährdung errechnet, was man hineinnimmt und weglässt, ist in der Sozialforschung umstritten (Details siehe hier).

Gute Zahlen, schlechte Zahlen

Diese Hintergründe sollte man kennen, um jene Zahlen zur Armutsgefährdung interpretieren zu können, die am Dienstag das Statistische Bundesamt (Destatis) vorgestellt hat. Grundlage für die Zahlen sind der aktuelle Mikrozensus, einer Befragung von rund 830.000 Personen in 370.000 Haushalten. Und tatsächlich werden die Zahlen in den Medien höchst unterschiedlich aufgenommen. Hierfür zwei Beispiele:

Der Journalist Daniel Eckert münzt die statistischen Daten bei „Welt Online“ geradezu in eine Jubelmeldung um. „Allen Unkenrufen zum Trotz: Die Gefahr, sozial abgehängt zu werden, nimmt in Deutschland nicht zu“, schreibt er. „Niedrige Einkommen entwickeln sich genauso dynamisch wie mittlere“. Das Gespenst der sozialen Spaltung verliere an Schrecken, in vielen Landesteilen sei die „Gefahr, nicht genug zu verdienen, zurückgegangen“.

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Ganz anders interpretiert die Zahlen die „Deutsche Welle“. Der zur ARD gehörende Sender schreibt auf seiner Webseite: „Das Armutsrisiko in Deutschland ist trotz guter Konjunktur im bundesweiten Durchschnitt nicht gesunken, für Kinder und Heranwachsende ist es sogar leicht gestiegen“. Und weiter: „Mittlerweile ist jeder fünfte Minderjährige von Armut bedroht, wie das Statistische Bundesamt mitteilte“. 20,2 Prozent aller Personen unter 18 Jahren gelten als „armutsgefährdet“, so erfährt der Leser. Der Paritätische Wohlfahrtverband wertet diese Zahlen als „Armutszeugnis für die Bundesregierung“ und „als Schande“.

Ja, wie ist es denn nun um die Armutsgefährdung in Deutschland bestellt? Entscheiden Sie selbst:

  • Das Armutsrisiko ist eine relative Größe: Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland bzw. des Bundesmedians zur Verfügung hat.

  • Die bundesweite Armutsgefährdungsschwelle lag 2016 bei 969 Euro Monatseinkommen. Für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern bezifferte sich der Wert auf 2.035 Euro Monatseinkommen.

  • Ermittelt wird die Armutsgefährdungsschwelle auf Basis des Nettoäquivalenzeinkommens. Das heißt, es werden zunächst alle Einkünfte aus selbständiger und nichtselbständiger Arbeit, gezahltem Unterhalt, Vermögen sowie Sozialleistungen wie dem Wohngeld eingerechnet. Davon zieht man dann die Steuern sowie Pflichtbeiträge zu Sozialversicherungen ab.

  • Weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen mittleren Einkommens (Medianeinkommen) hatten 2016 im bundesweiten Schnitt 15,7 Prozent der Bevölkerung (Armutsgefährdungsquote). Die Quote ist gegenüber dem Vorjahr stabil geblieben: "Welt Online" bewertet dies als positiv, weil die Armutsgefährdung wegen der brummenden Konjunktur nicht angewachsen sei. Die "Deutsche Welle" wertet dies als negativ, weil die Armutsgefährdung trotz der brummenden Konjunktur nicht sank und scheinbar viele nicht davon profitiert haben.

  • Große Differenzen zeigen sich zwischen den einzelnen Bundesländern. Das bundesweit höchste Armutsrisiko weist Bremen mit 22,6 Prozent auf, gefolgt von Sachsen-Anhalt mit 21,4 Prozent und Mecklenburg-Vorpommern mit 20,4 Prozent. In den südlichen Bundesländern ist die Armutsgefährdungsquote weit geringer: In Baden-Württemberg bezifferte sie sich auf 11,9 und in Bayern auf 12,1 Prozent. Grundsätzlich zeigt sich ein Ost-West-Gefälle: Im früheren Bundesgebiet (ohne Berlin) hatten 15,0 Prozent der Bevölkerung ein erhöhtes Armutsrisiko, in den den neuen Ländern (einschließlich Berlin) 18,4 Prozent.

  • Ein besonders hohes Armutsrisiko hatten laut Statistik Erwerbslose und Alleinerziehende. Mehr als die Hälfte aller Erwerbslosen im früheren Bundesgebiet (52,9 Prozent) sowie mehr als zwei Drittel der Erwerbslosen in den neuen Ländern (66,9 Prozent) verdienten weniger als 60 Prozent des bundesweiten Medianeinkommens. Dies traf in den Alleinerziehenden-Haushalten auf 42,4 Prozent in den alten Ländern und 46,9 Prozent in den neuen Bundesländern zu.

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