Extreme Wetterereignisse, steigende Baukosten, Fachkräftemangel: Die Wohngebäudeversicherung steht seit Jahren unter massivem Druck. Dirk Schmidt-Gallas, Senior Partner und Leiter der globalen Insurance-Practice bei Simon-Kucher, sowie Philipp Kaupke, Partner bei Simon-Kucher, zeigen in ihrem Gastbeitrag bei Versicherungsbote, warum die Branche jetzt umsteuern muss – und welche fünf Handlungsfelder entscheidend sind, um die Zukunftsfähigkeit zu sichern.
Die Wohngebäudeversicherung steht seit Jahren unter erheblichem Druck. Extreme Wetterereignisse, steigende Baukosten und Fachkräftemangel im Handwerk haben die Schadensbilanz spürbar verschlechtert. Selbst nach deutlichen Beitragsanpassungen gelang es den Versicherern zuletzt nur knapp, die Ausgaben durch die Einnahmen zu decken.
Wie ernst die Lage ist, zeigt ein Blick auf die Schaden-Kosten-Quote. 2023 lag sie in der Wohngebäudeversicherung laut Assekurata zum Beispiel bei 100,9 Prozent – trotz deutlicher Prämiensteigerungen. Auch 2025 bleibt die Profitabilität angespannt: Erst zog sich die Continentale aus dem Neugeschäft der Wohngebäudeversicherung für Makler und Mehrfachagenten zurück, nun kündigte die fusionierte Barmenia Gothaer eine umfassende Sanierung ihrer Bestände in dieser Sparte an.
Gleichzeitig haben traditionelle Kalkulationsgrundlagen ihre Steuerungsfunktion verloren. Versicherer müssen ihre Produkt- und Preisstrategien neu aufstellen – und zwar schnell. Gefragt sind Kalkulationsmodelle, die stärker als bislang differenzierte Prognoseinstrumente einbeziehen und auf Szenarioanalysen setzen.
Anpassungsfaktor und Baukostenindex am Limit
Traditionell orientieren sich Versicherer bei der Wohngebäudeversicherung an zwei zentralen Stellschrauben: dem Anpassungsfaktor und dem Baukostenindex. Sie sollen sicherstellen, dass die Versicherungssumme Jahr für Jahr den steigenden Wiederherstellungskosten entspricht. Doch die Realität hat beide Modelle längst überholt.
In den vergangenen Jahren sind die Bau- und Sanierungskosten sprunghaft angestiegen – getrieben durch Lieferengpässe, Energiepreissteigerungen und Fachkräftemangel. So kletterte der Anpassungsfaktor 2023 um 14,7 Prozent, 2024 um weitere 7,5 Prozent. Zum Jahresbeginn 2025 stieg er nochmals um 2,5 Prozent auf einen Wert von 26,51. Auch der Baupreisindex bewegt sich weiter nach oben. Die Folge: Automatische Anpassungen nach starren Durchschnittswerten führen in vielen Fällen zu einer Schein-Optimierung – mit dem Risiko von Unterversicherung, Kundenüberforderung oder Verzerrungen in der Tarifkalkulation.
Wer heute noch allein dem Baupreisindex und dem Anpassungsfaktor vertraut, steuert sprichwörtlich per Blick in den Rückspiegel – und riskiert eine strategische Unfallfahrt.
Profitabilität unter Druck
Hinzu kommt ein weiteres Problem: Steigende Schadenquoten erzwingen höhere Beiträge, die im Vertrieb allerdings häufig durch Rabatte wieder neutralisiert werden. Doch Rabatte kaschieren nur Symptome – sie lösen keine strukturellen Probleme. Sind die Produkte zu komplex, zu teuer oder wurden am tatsächlichen Bedarf der Kunden vorbeientwickelt, dann bleiben sie unattraktiv – egal, wie hoch der Nachlass ist.
Für die Versicherer ergeben sich aus diesem Spannungsfeld fünf konkrete Handlungsfelder, um die Brandherde zu bekämpfen und ihre Profitabilität zu sichern:
- Regionale Differenzierung: Die Bau- und Sanierungskosten unterscheiden sich regional teils erheblich. Wer also differenziert nach PLZ-Regionen oder Risikozonen kalkuliert, kann die tatsächlichen Kostenentwicklungen besser abbilden – und Fälle von Unter- wie Überversicherungen reduzieren.
- Dynamisches Produktdesign: Starre Versicherungssummen gehören auf den Prüfstand. Der Markt bevorzugt Angebote, die sich situationsbedingt anpassen, Risiken automatisch begrenzen und sich über modulare Bausteine passgenau erweitern lassen.
- Proaktive Kundenkommunikation: Steigende Beiträge und komplexere Produkte brauchen Transparenz. Vermittler müssen erklären können, warum eine Prämie steigt und welchen Mehrwert neue Bausteine bieten. Kunden akzeptieren höhere Prämien eher, wenn sie die Logik und den Nutzen verstehen.
- Strategische Neuausrichtung des Portfolios: Ein „Weiter-so“ ist keine Option. Angesichts von Extremwetterereignissen und hohen Baukosten müssen Produkte neu zugeschnitten werden: modular, dynamisch und differenziert nach Risikoprofil. Entscheidend ist eine echte Kundenzentrierung – Produkte müssen an klar erkennbaren Bedürfnissen ausgerichtet werden, nicht an internen Kalkulationslogiken oder Vertriebsrabatten.
- Rabatte neu denken: Viele Versicherer gewähren Rabatte zu großzügig und ohne klare Strategie. Rabatte sind ein Steuerungsinstrument, kein Verkaufsreflex. Wer nachhaltiges Wachstum will, muss Produkte neu denken, nicht Rabatte verteilen.
Von reaktiver Kalkulation zu vorausschauender Steuerung
Die Wohngebäudeversicherung braucht mehr als kleine Justierungen. Gefordert sind neue Werkzeuge: differenzierte Prognosemodelle, Szenarioanalysen und datenbasierte Steuerung. Nur so lassen sich künftige Kostenentwicklungen rechtzeitig erkennen. Gleichzeitig müssen Prozesse und IT so ausgerichtet sein, dass regionale Kalkulationen, modulare Produkte und transparente Kommunikation nahtlos zusammenspielen.
Fazit: Wer jetzt handelt, sichert Zukunft und Vertrauen
Die Branche steht am Scheideweg. Baukostenindex und Anpassungsfaktor bleiben wichtig, reichen jedoch allein nicht mehr aus. Versicherer, die jetzt handeln, sichern nicht nur ihre Profitabilität, sondern auch das Vertrauen ihrer Kunden. Erfolgsentscheidend sind moderne Kalkulationsmethoden, modulare Produktarchitekturen, klare Kommunikationsstrategien und eine konsequentere Rabattlogik.
Schließlich können Versicherer den Teufelskreis aus steigenden Schadenquoten, höheren Prämien und Rabatten, die nicht zielgerichtet sind, nur durchbrechen, wenn echte Kundenzentrierung zum Maßstab wird. Wer den Blick nach vorn richtet und seine Kalkulation sowie sein Produktportfolio konsequent erneuert, macht die Wohngebäudeversicherung zukunftsfest.
Hintergrund: Der Text erschien zuerst im neuen kostenfreien Versicherungsbote Fachmagazin 02-2025. Das Magazin kann auf der Webseite des Versicherungsbote bestellt werden.