Die tickende Risiko-Bombe: Versicherungen zwischen Macht, Markt und Politik

Versicherungen stehen unter Druck: Klimakrisen, Oligopole, KI-Risiken und politische Extreme bedrohen ihre Stabilität. Gastautor Alwin W. Gerlach warnt vor einer „tickenden Risiko-Bombe“ – und fordert, Sicherheit neu zu denken.

Eine Welt am Rand der Unversicherbarkeit

Risiken eskalieren schneller, als sie kalkulierbar sind. Klimakatastrophen, geopolitische Machtverschiebungen, ökonomische Krisen, soziale Spaltung, technologische Sprünge und politischer Extremismus greifen ineinander wie Zahnräder einer Maschine, die sich immer schneller dreht. Versicherungen, die seit Jahrhunderten Stabilität und Sicherheit versprechen, werden in dieser Gemengelage selbst zum Unsicherheitsfaktor. Was als Schutz gedacht war, droht zur tickenden Risiko-Bombe zu werden. Die Branche steckt im Dilemma: zwischen Macht und Markt, zwischen Politik und Profit, zwischen gesellschaftlichem Auftrag und der Versuchung maximaler Gewinne. Die Frage ist nicht mehr, ob das System reformiert werden muss – sondern ob es überhaupt überleben kann, wenn Politik und Versicherer weiter abwarten.

Oligopole – Machtkonzentration ohne Kontrolle

Die Versicherungsbranche ist längst kein freier Markt. Wenige Konzerne , Allianz, AXA, Ping An, Prudential – kontrollieren weltweit Kapitalanlagen in Billionenhöhe. Diese Konzentration schafft Abhängigkeiten, die systemische Risiken bergen. Gerät einer dieser Player ins Wanken, sind ganze Volkswirtschaften betroffen. Politik und Aufsicht behandeln Versicherer jedoch nicht wie Banken , zu groß, um zu scheitern, aber zu unsichtbar, um streng kontrolliert zu werden. Ein gefährlicher blinder Fleck. Statt Transparenz zu schaffen, verschleiern Geschäftsberichte und Lobbyarbeit die wahre Dimension des Risikos. Die Öffentlichkeit ahnt nicht, wie fragil das Fundament ihrer Versicherungen tatsächlich ist.

Gewinnmaximierung gegen Solidarität

Die Branche predigt Sicherheit, aber gehorcht dem Shareholder Value. Gewinne werden maximiert, Dividenden ausgezahlt, während Kunden mit steigenden Prämien und sinkenden Leistungen konfrontiert sind. Rückversicherungskosten werden weitergereicht, Risikozonen ausgeschlossen, ganze Kundengruppen systematisch abgehängt. Solidarität, das eigentliche Fundament der Versicherungsidee, weicht einer Profitlogik. Wenn Sicherheit nur noch für Wohlhabende zu kaufen ist, verliert die Branche ihre gesellschaftliche Legitimation – und beschädigt die Demokratie, die auf Teilhabe und Gleichheit basiert.

Politische Zerrissenheit – Handlungsunfähigkeit als Risiko

Politik und Versicherungswirtschaft könnten Partner sein. Doch statt Kooperation herrscht Misstrauen. Nach der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 schoben sich Politik und Versicherer gegenseitig die Schuld zu: Die einen warfen mangelnde Prävention vor, die anderen kritisierten fehlende staatliche Schutzmaßnahmen. Ein gemeinsamer Plan entstand nicht – nur Schlagzeilen und Prozesse. Diese Blockade ist symptomatisch. Rentenreformen werden seit Jahrzehnten vertagt, Klimapolitik bleibt halbherzig, Steuerpolitik ist kleinteilig und widersprüchlich. Stillstand wird zur Strategie – mit katastrophalen Folgen für Bürger und Versicherer gleichermaßen.

Wirtschaftskrise – Dominoeffekte einer fragilen Welt

Versicherer sollen als Puffer in Krisen wirken doch sie selbst geraten ins Wanken, wenn die Wirtschaft stagniert. Insolvenzen reißen Lücken, Beiträge brechen weg, Kapitalmärkte verlieren Wert. 2023 stiegen die Firmenpleiten in Deutschland um fast 20 Prozent , mit direkten Folgen für Kredit- und Forderungsversicherer. Arbeitslosigkeit reduziert private Vorsorge, Altersarmut wächst. Eine Wirtschaftskrise ist für Versicherer kein externer Schock, sondern ein Dominoeffekt: Jeder Stein, der fällt, stößt den nächsten an. Die Behauptung, Versicherungen seien krisenfest, ist längst Illusion.

Demografie – die Zeitbombe des Sozialstaats

Die Alterung der Gesellschaft ist ein stiller Sprengsatz. Weniger Erwerbstätige müssen immer mehr Rentner finanzieren. Schon heute geraten Krankenkassen und Pflegeversicherungen unter Druck. Private Vorsorge wird zur Pflicht, aber Millionen können sie sich nicht leisten. Das Risiko ist doppelter Natur: ökonomisch, weil das System kollabiert; politisch, weil Ungleichheit das Vertrauen in Demokratie untergräbt. Versicherungen stehen mitten in diesem Dilemma , als Teil des Systems, aber ohne den Mut, eine echte Lösung einzufordern.

Vermögensungleichheit – Zwei-Klassen-Sicherheit

Die OECD warnt seit Jahren: Deutschland gehört zu den ungleichsten Gesellschaften der Industrieländer. Die reichsten zehn Prozent besitzen mehr als die Hälfte des Vermögens, die ärmere Hälfte nahezu nichts. Diese Spaltung übersetzt sich direkt in Versicherungsrealität. Während Vermögende ihre Risiken diversifizieren, Altersvorsorge betreiben und Zusatzpolicen kaufen können, bleibt die Mehrheit auf Minimalleistungen sitzen. Damit entsteht eine Zwei-Klassen-Sicherheit , und eine stille Erosion des Solidaritätsgedankens. Demokratie lebt vom Gefühl, dass Sicherheit allen zusteht. Wenn das verloren geht, wächst die Anfälligkeit für Extremismus.

Klimarisiken – wenn der Ausnahmefall zur Regel wird

Die Klimakrise macht Regionen unversicherbar. Hochwasser, Dürre, Stürme: Schäden steigen in Milliardenhöhe. Versicherer erhöhen Prämien oder ziehen sich ganz zurück. Für Bürger bedeutet das: Häuser, Existenzen, ganze Lebensmodelle werden unversicherbar. In den USA haben Konzerne den Rückzug aus Kalifornien angekündigt, in Europa trifft es Überschwemmungsgebiete. Politik diskutiert, statt zu handeln. Ein Staat ohne Absicherung, eine Branche im Rückzug , das ist die gefährlichste Mischung: Bürger verlieren Vertrauen nicht nur in Versicherungen, sondern in das System als Ganzes.

Globale Machtverschiebungen – USA, China und Europas Zerrissenheit

Der geopolitische Wettstreit zwischen den USA und China ist kein Handelskonflikt, sondern eine Systemkonkurrenz. Beide Länder kämpfen um Technologiehoheit, Kapitalströme und politische Dominanz. Europa bleibt zerrissen, abhängig und handlungsunfähig. Für Versicherer bedeutet das: doppelte Unsicherheit. Investitionen in China bergen politische Risiken, Engagement in den USA bindet an Sanktionen. Ein Konflikt um Taiwan könnte den Welthandel für Wochen lahmlegen , eine Katastrophe für Transport- und Kreditversicherer, deren Risiken dann Billionenhöhe erreichen würden. Kapitalströme wandern nach Asien, während Europa schwächelt. Versicherer müssen sich entscheiden: mitgehen und riskieren, oder zurückbleiben und stagnieren. Beide Optionen sind gefährlich.

Künstliche Intelligenz – Black Box statt Transparenz

KI verspricht Effizienz ,und birgt Gefahren. Algorithmen entscheiden über Kredite, Tarife, Versicherungsleistungen. Doch wer kontrolliert die Black Box? Schon heute gibt es Fälle diskriminierender Risikobewertungen , ältere Menschen, Frauen oder Migranten zahlen mehr, ohne dass sie wissen, warum. Vertrauen, das in Jahrhunderten aufgebaut wurde, kann in Sekunden zerstört werden. KI ist nicht nur ein Werkzeug , sie ist ein Test für die Glaubwürdigkeit der Branche. Wer hier Transparenz verweigert, spielt mit dem Feuer.

Extremismus – die politische Bombe

Wachsende Zustimmung für extremistische Parteien in Europa ist nicht nur ein demokratisches Risiko, sondern auch ein wirtschaftliches. Populisten blockieren Reformen, verhindern Kompromisse und untergraben Vertrauen in Institutionen. Für die Versicherungsbranche bedeutet das unkalkulierbare Unsicherheit. Politische Risiken sind nicht versicherbar, sie sind existenziell. Eine Demokratie, die instabil wird, zieht auch die Versicherungswirtschaft mit in den Abgrund.

Fehlender Mut zur Kooperation – Reden statt Handeln

Die Branche könnte Partner der Politik sein – beim Aufbau von Klimafonds, bei Rentenreformen, in der Digitalisierung. Doch stattdessen herrscht Distanz. Versicherer fürchten staatliche Eingriffe, Politiker misstrauen den Konzernen. Die Folge: gegenseitige Schuldzuweisungen, wie im Ahrtal, statt gemeinsamer Strategien. Während andere Länder – etwa Dänemark oder Japan , überparteiliche Kooperationen entwickeln, bleibt Europa im Klein-Klein gefangen. Der Preis: wachsende Risiken, steigende Kosten, sinkendes Vertrauen.

Lösungsansätze – Sicherheit neu denken

Überparteiliche Reformpakte: Langfristige, verbindliche Vereinbarungen über Renten, Klima, Digitalisierung , über Wahlperioden hinaus.
Pflichtversicherung und Prävention: Klimarisiken dürfen nicht länger privatisiert werden. Staat und Branche müssen gemeinsam handeln.
Stärkung der Solidarität: Versicherung muss wieder für alle da sein – nicht nur für Wohlhabende. Demokratische Legitimation hängt davon ab.
Geopolitische Resilienz: Kapitalanlagen diversifizieren, Risiken offenlegen, internationale Kooperationen aufbauen.
KI mit Transparenz: Algorithmen müssen nachvollziehbar sein. Vertrauen darf nicht im Datendschungel verloren gehen.
Gesellschaftlicher Auftrag: Versicherungen sind keine bloßen Profitmaschinen – sie sind Pfeiler von Sozialstaat und Demokratie.

Der Weckruf

Die Versicherungswirtschaft sitzt auf einer Risiko-Bombe, die zu ticken begonnen hat. Wirtschaftskrisen, Oligopole, soziale Spaltung, Klimarisiken, globale Machtverschiebungen, technologische Black Boxes und politischer Extremismus wirken zusammen wie Sprengsätze, die das Fundament erschüttern. Doch Krise bedeutet auch Chance. Noch nie war der Bedarf an Stabilität, Solidarität und verlässlichen Institutionen so groß wie heute. Wenn Versicherer die Verantwortung annehmen, den Mut zur Kooperation finden und ihre Rolle als gesellschaftlicher Anker begreifen, können sie zur Lösung beitragen. Tun sie es nicht, droht der Branche nicht nur ökonomischer Niedergang, sondern auch der Verlust ihrer gesellschaftlichen Legitimation. Und eine Gesellschaft ohne Vertrauen in Sicherheit verliert mehr als Märkte oder Kapital. Sie verliert ihr Fundament: Demokratie selbst.

Alwin W. Gerlach