Sozialversicherung: 'Die Frage ist, wann die Beitragssätze 50 Prozent erreichen'

Quelle: Sachverständigenrat Wirtschaft

Die Beitragssätze zur Sozialversicherung in Deutschland steigen weiter und ein Ende ist nicht in Sicht. Der Wirtschaftsweise Martin Werding warnt vor einer Abgabenlast von 50 Prozent des Bruttoeinkommens. Ohne Reformen drohen Unternehmen wie Beschäftigten massive finanzielle Belastungen.

Das deutsche Sozialversicherungssystem steht vor einem demografischen und finanziellen Kipppunkt. Vor einigen Jahren war vielen deutschen Politikern die 40 Prozent-Grenze heilig. Das Ziel dabei war es stets den Gesamtbeitrag der Sozialversicherung unter dieser Grenze zu halten und so die Abgabenlast der Arbeitnehmer in einem vernünftigen Niveau zu halten. Doch aus dem einstigen Versprechen ist längst eine lose Zahl geworden, an die man sich nicht mehr gebunden fühlt. Während der Gesamtsozialversicherungsbeitrag im Jahr 2021 noch bei 39,95 Prozent lag, ist dieser inzwischen auf 42,5 Prozent angestiegen.

50-Prozent-Marke ist in Sicht

Der Wirtschaftsweise Martin Werding zeichnet erneut ein beunruhigendes Bild für die finanzielle Zukunft der deutschen Sozialversicherungssysteme. Denn ohne weitreichende Reformen könnten die Beiträge zur Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung bald die Marke von 50 Prozent des Bruttoeinkommens überschreiten. "Die aktuelle Entwicklung ist atemberaubend. Wegen der fortschreitenden demografischen Alterung hält der Aufwärtstrend ohne Reformen in den 2030er Jahren unverändert an", sagte Werding gegenüber der "Rheinischen Post".

Im Laufe des Jahres 2025 wird laut Werding ein Anstieg auf durchschnittlich 43 Prozent erwartet. Allein die Krankenversicherungsbeiträge haben im Frühjahr die 17-Prozent-Marke überschritten, inzwischen liegt der Schnitt laut Werding bei 17,5 Prozent. Zahlreiche Kassen haben ihre Zusatzbeiträge bereits weiter angehoben oder Beitragsanpassungen angekündigt. Auch in der Pflegeversicherung stehen weitere Erhöhungen zum Jahreswechsel im Raum.

In wenigen Jahren könnte auch die Rentenversicherung deutlich teurer werden. Spätestens 2028 erwartet der Ökonom einen „sprunghaften Anstieg“ der Rentenbeiträge von derzeit 18,6 auf knapp 20 Prozent. Damit wäre die Gesamtsozialabgabenquote bereits bei 45 Prozent. "Die Frage ist nicht, ob die Beitragssätze irgendwann 50 Prozent erreichen, sondern wann das geschieht", warnt Werding. Ohne tiefgreifende Reformen steuert Deutschland ungebremst auf diese hohe Abgabenquot zu. Die derzeit diskutierten Maßnahmen hält der Ökonom derweil für nicht ausreichend. Besonders der demografische Wandel treibt die Belastung. Denn immer mehr Rentner stehen einer schrumpfenden Zahl von Beitragszahlern gegenüber.

Jüngere Generationen werden massiv benachteiligt

Wie bedrohlich die Lage ist, hatte eine Studie des Wissenschaftlichen Instituts der PKV (WIP) im Mai 2025 mit Zahlen unterlegt. Diese wurde von Martin Werding, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, verfasst. Im Kern sieht die Studie einen deutlichen Anstieg der Beitragssätze in den kommenden Jahrzehnten. Unter den derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen und auf Basis mittlerer Annahmen zur wirtschaftlichen Entwicklung werde der Gesamtbeitrag zur Sozialversicherung von aktuell knapp 42 Prozent bis 2035 auf 47,5 Prozent steigen. Bis 2080 werde sogar ein Anstieg auf 58,4 Prozent erwartet. Diese Entwicklung hat nicht nur negative Auswirkungen auf die Beschäftigungsentwicklung und das gesamtwirtschaftliche Wachstum, sondern führt auch zu einer erheblichen Belastungsverschiebung zulasten der jüngeren Generationen.

Während ein im Jahr 1940 geborener Mensch im Durchschnitt 34,2 Prozent seines Erwerbseinkommens an Sozialbeiträgen entrichtete, werden es für den Jahrgang 2020 voraussichtlich 55,6 Prozent sein. Besonders deutlich zeigt sich die Belastungsverschiebung in der Pflegeversicherung, deren Beitragssatz sich seit ihrer Einführung 1995 vervielfacht hat. Auch die Renten- und Krankenversicherung tragen erheblich zum Anstieg bei.

Der Wirtschaftsweise betont die Notwendigkeit grundlegender Reformen, um die Generationengerechtigkeit zu erhalten. Der sogenannte „Generationenvertrag“ sei kein juristisch bindender Vertrag, sondern müsse politisch so gestaltet werden, dass er für alle beteiligten Generationen zustimmungsfähig bleibt. Die Studie liefert somit eine empirische Grundlage für eine faktenbasierte Debatte über die Zukunft der Sozialversicherungssysteme in Deutschland.

„Die Analyse von Professor Werding belegt mit klaren Zahlen, wie stark das umlagefinanzierte Sozialversicherungssystem junge Generationen belastet“, sagt Dr. Frank Wild, Institutsleiter des WIP. „Wenn künftige Erwerbstätige über die Hälfte ihres Einkommens für Sozialbeiträge aufbringen müssen, ist das kein tragfähiger Generationenvertrag mehr – sondern eine Schieflage mit sozialen und ökonomischen Risiken. Die Analyse liefert die empirische Grundlage, um diese Debatte faktenbasiert zu führen.“

Zu ähnlich alarmierenden Zahlen war im vergangenen Jahr eine Projektion des Berliner IGES Instituts im Auftrag der DAK-Gesundheit gekommen. Denn bis zum Jahr 2035 könnte der Gesamtbeitrag der Sozialversicherung um 7,5 Beitragspunkte auf 48,6 Prozent ansteigen. Allein in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit 73 Millionen Versicherten droht in den nächsten zehn Jahren ein Beitragssprung von 16,3 auf 19,3 Prozent. Das zeigt eine neue Projektion des Berliner IGES Instituts im Auftrag der DAK-Gesundheit. Die Wissenschaftler hatten in dieser Form erstmals eine Gesamtprognose für alle Zweige der Sozialversicherung (Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung) mit der zu erwartenden Beitragsentwicklung bis 2035 berechnet. Grundlage dafür waren verfügbare Daten der zuständigen Bundesministerien und der beteiligten Sozialversicherungsträger.

„Die IGES-Projektion zeigt, dass die Sozialabgaben in Deutschland entgegen bisherigen politischen Vorgaben realistisch nicht auf 40 Prozent gedeckelt werden können“, sagte DAK-Vorstandschef Andreas Storm damals. „Wir müssen vielmehr verhindern, dass die Gesamtbelastung in den nächsten zehn Jahren in Richtung 50 Prozent klettert und so Versicherte und Arbeitgeber überfordert.“