Sozialversicherung vor dem Kollaps: Generationengerechtigkeit in Gefahr

Quelle: Sachverständigenrat Wirtschaft

Werding hatte zuletzt dringend Reformen für die Sozialversicherung angemahnt. Trotz der jüngsten Krankenhausreform werde in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) viel Geld ineffizient eingesetzt, ohne dass die Versorgungsqualität für Versicherte spürbar verbessert werde, kritisierte Werding im Gespräch mit dem "Focus". Um die steigenden Kosten einzudämmen, bedürfe es mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen. Krankenkassen sollten sich mit regionalen Arztpraxen und Krankenhäusern zu Netzwerken zusammenschließen können, um eine qualitativ hochwertige und kostengünstige Versorgung zu gewährleisten. Auch bei der Rente gäbe es Handlungsbedarf. Spätestens nach 2031 müsse das Renteneintrittsalter weiter angehoben werden.

Bereits im November 2024 hatte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 2024/25 auf umfassende Reformen für die gesetzliche Rentenversicherung gedrängt (Versicherungsbote berichtete). Im Fokus standen dabei eine Anpassung des Renteneintrittsalters, die Überprüfung spezieller Leistungen wie der „Rente ab 63“ und Einsparpotenziale durch Bürokratieabbau.

Parallelen zum Klimabeschluss von 2021

Dass die jüngere Generation unverhältnismäßig belastet wird, hatte in diesem Jahr auch ein Gutachten des Augsburger Finanz- und Steuerrechtlers Gregor Kirchhofausgemacht. Demnach sei die aktuelle Finanzarchitektur in der Sozialversicherung hochgradig instabil. Schon heute sind die Systeme stark auf Steuerzuschüsse angewiesen, besonders die gesetzliche Rentenversicherung, die jährlich über 100 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt erhält. Nach Berechnungen von Kirchhof, die er im Auftrag des Verbands Die Familienunternehmer gemacht hat, könnten diese Zuschüsse bis 2045 auf über 200 Milliarden Euro steigen – ein Szenario, das weder mit der Schuldenbremse noch mit der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen vereinbar ist.

Spannend ist die Parallele zum Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021. Damals hatte das Gericht die Bundesregierung verpflichtet, die Emissionsreduzierung so zu gestalten, dass künftige Generationen nicht übermäßig belastet werden. Ähnliche rechtliche Argumente könnten nun auf die Sozialversicherung angewendet werden – mit weitreichenden Folgen für die Politik.

Denn die gegenwärtige Finanzierungsstruktur zwingt die junge Generation zu einer überproportionalen Beitragslast. Während ein Arbeitnehmer in den 1960er Jahren noch von sechs Beitragszahlern gestützt wurde, sind es heute nur noch 2,7. Bis 2070 könnte dieses Verhältnis auf 1,9:1 absinken. Das bedeutet: Ohne Reformen werden zukünftige Generationen gezwungen sein, mit Beitragssätzen von bis zu 50 Prozent ihres Einkommens die Renten, Kranken- und Pflegeleistungen zu finanzieren – zusätzlich zu den regulären Steuern und Abgaben.

„Das Grundgesetz fordert, die umlagefinanzierten Sozialsysteme zu erhalten. Die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung bilden das Fundament unseres Sozialstaats, das nicht erodieren darf.", unterstreicht Gregor Kirchhof in der Einleitung des Gutachtens. Wenn jedoch die sozialen Sicherungssysteme einen demographischen Kipppunkt erreichten, seien sie nicht mehr leistungsfähig. Aktuell steuerten die Sicherungssysteme mit Volldampf auf diesen Punkt zu. Doch: „Das Grundgesetz verbietet dem Staat, dieser Entwicklung tatenlos zuzusehen. Es verpflichtet den Gesetzgeber, die Versicherungen zeitnah grundlegend zu reformieren und eigenständig zu finanzieren", mahnt Kirchhof.

Hier könnte also das Bundesverfassungsgericht ansetzen: Wie beim Klimaschutz könnte es argumentieren, dass der Staat durch unterlassene Reformen das Grundrecht der jüngeren Generationen auf eine finanzierbare soziale Absicherung und wirtschaftliche Freiheit verletzt. Eine zu hohe Abgabenlast könnte als verfassungswidrige Einschränkung der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten gewertet werden.