Die Beitragssätze zur Sozialversicherung in Deutschland werden in den kommenden Jahrzehnten erheblich steigen. Demnach könnte der Gesamtbeitragssatz unter aktueller Gesetzeslage bis 2080 auf 58,4 Prozent springen. Besonders betroffen sind die jüngeren Generationen, die einen deutlich höheren Anteil ihres Einkommens für Sozialabgaben aufbringen müssen. Das geht aus einer aktuellen WIP-Studie von Martin Werding hervor.
Das deutsche Sozialversicherungssystem steht vor einem demografischen und finanziellen Kipppunkt. Vor einigen Jahren war vielen deutschen Politikern die 40 Prozent-Grenze heilig. Das Ziel dabei war es stets den Gesamtbeitrag der Sozialversicherung unter dieser Grenze zu halten und so die Abgabenlast der Arbeitnehmer in einem vernünftigen Niveau zu halten. Doch aus dem einstigen Versprechen ist längst eine lose Zahl geworden, an die man sich nicht mehr gebunden fühlt. Während der Gesamtsozialversicherungsbeitrag im Jahr 2021 noch bei 39,95 Prozent lag, ist dieser inzwischen auf 42,5 Prozent angestiegen.
Im vergangenen Jahr hatte eine Projektion des Berliner IGES Instituts im Auftrag der DAK-Gesundheit die bedrohliche Lage noch einmal mit Zahlen unterlegt. Denn bis zum Jahr 2035 könnte der Gesamtbeitrag der Sozialversicherung um 7,5 Beitragspunkte auf 48,6 Prozent ansteigen. Allein in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit 73 Millionen Versicherten droht in den nächsten zehn Jahren ein Beitragssprung von 16,3 auf 19,3 Prozent. Das zeigt eine neue Projektion des Berliner IGES Instituts im Auftrag der DAK-Gesundheit. Die Wissenschaftler hatten in dieser Form erstmals eine Gesamtprognose für alle Zweige der Sozialversicherung (Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung) mit der zu erwartenden Beitragsentwicklung bis 2035 berechnet. Grundlage dafür waren verfügbare Daten der zuständigen Bundesministerien und der beteiligten Sozialversicherungsträger.
„Die IGES-Projektion zeigt, dass die Sozialabgaben in Deutschland entgegen bisherigen politischen Vorgaben realistisch nicht auf 40 Prozent gedeckelt werden können“, sagte DAK-Vorstandschef Andreas Storm damals. „Wir müssen vielmehr verhindern, dass die Gesamtbelastung in den nächsten zehn Jahren in Richtung 50 Prozent klettert und so Versicherte und Arbeitgeber überfordert.“
Jüngere Generationen werden massiv benachteiligt
Zu ähnlich alarmierenden Zahlen kommt eine aktuelle Studie des Wissenschaftlichen Instituts der PKV (WIP). Diese wurde von Martin Werding, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, verfasst. Im Kern sieht die Studie einen deutlichen Anstieg der Beitragssätze in den kommenden Jahrzehnten. Unter den derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen und auf Basis mittlerer Annahmen zur wirtschaftlichen Entwicklung werde der Gesamtbeitrag zur Sozialversicherung von aktuell knapp 42 Prozent bis 2035 auf 47,5 Prozent steigen. Bis 2080 werde sogar ein Anstieg auf 58,4 Prozent erwartet. Diese Entwicklung hat nicht nur negative Auswirkungen auf die Beschäftigungsentwicklung und das gesamtwirtschaftliche Wachstum, sondern führt auch zu einer erheblichen Belastungsverschiebung zulasten der jüngeren Generationen.
Während ein im Jahr 1940 geborener Mensch im Durchschnitt 34,2 Prozent seines Erwerbseinkommens an Sozialbeiträgen entrichtete, werden es für den Jahrgang 2020 voraussichtlich 55,6 Prozent sein. Besonders deutlich zeigt sich die Belastungsverschiebung in der Pflegeversicherung, deren Beitragssatz sich seit ihrer Einführung 1995 vervielfacht hat. Auch die Renten- und Krankenversicherung tragen erheblich zum Anstieg bei.
Der Wirtschaftsweise betont die Notwendigkeit grundlegender Reformen, um die Generationengerechtigkeit zu erhalten. Der sogenannte „Generationenvertrag“ sei kein juristisch bindender Vertrag, sondern müsse politisch so gestaltet werden, dass er für alle beteiligten Generationen zustimmungsfähig bleibt. Die Studie liefert somit eine empirische Grundlage für eine faktenbasierte Debatte über die Zukunft der Sozialversicherungssysteme in Deutschland.
„Die Analyse von Professor Werding belegt mit klaren Zahlen, wie stark das umlagefinanzierte Sozialversicherungssystem junge Generationen belastet“, sagt Dr. Frank Wild, Institutsleiter des WIP. „Wenn künftige Erwerbstätige über die Hälfte ihres Einkommens für Sozialbeiträge aufbringen müssen, ist das kein tragfähiger Generationenvertrag mehr – sondern eine Schieflage mit sozialen und ökonomischen Risiken. Die Analyse liefert die empirische Grundlage, um diese Debatte faktenbasiert zu führen.“
Muss Bundesverfassungsgericht die Reform der Sozialversicherung erzwingen?
Werding hatte zuletzt dringend Reformen für die Sozialversicherung angemahnt. Trotz der jüngsten Krankenhausreform werde in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) viel Geld ineffizient eingesetzt, ohne dass die Versorgungsqualität für Versicherte spürbar verbessert werde, kritisierte Werding im Gespräch mit dem "Focus". Um die steigenden Kosten einzudämmen, bedürfe es mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen. Krankenkassen sollten sich mit regionalen Arztpraxen und Krankenhäusern zu Netzwerken zusammenschließen können, um eine qualitativ hochwertige und kostengünstige Versorgung zu gewährleisten. Auch bei der Rente gäbe es Handlungsbedarf. Spätestens nach 2031 müsse das Renteneintrittsalter weiter angehoben werden.
Bereits im November 2024 hatte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 2024/25 auf umfassende Reformen für die gesetzliche Rentenversicherung gedrängt (Versicherungsbote berichtete). Im Fokus standen dabei eine Anpassung des Renteneintrittsalters, die Überprüfung spezieller Leistungen wie der „Rente ab 63“ und Einsparpotenziale durch Bürokratieabbau.
Parallelen zum Klimabeschluss von 2021
Dass die jüngere Generation unverhältnismäßig belastet wird, hatte in diesem Jahr auch ein Gutachten des Augsburger Finanz- und Steuerrechtlers Gregor Kirchhofausgemacht. Demnach sei die aktuelle Finanzarchitektur in der Sozialversicherung hochgradig instabil. Schon heute sind die Systeme stark auf Steuerzuschüsse angewiesen, besonders die gesetzliche Rentenversicherung, die jährlich über 100 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt erhält. Nach Berechnungen von Kirchhof, die er im Auftrag des Verbands Die Familienunternehmer gemacht hat, könnten diese Zuschüsse bis 2045 auf über 200 Milliarden Euro steigen – ein Szenario, das weder mit der Schuldenbremse noch mit der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen vereinbar ist.
Spannend ist die Parallele zum Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021. Damals hatte das Gericht die Bundesregierung verpflichtet, die Emissionsreduzierung so zu gestalten, dass künftige Generationen nicht übermäßig belastet werden. Ähnliche rechtliche Argumente könnten nun auf die Sozialversicherung angewendet werden – mit weitreichenden Folgen für die Politik.
Denn die gegenwärtige Finanzierungsstruktur zwingt die junge Generation zu einer überproportionalen Beitragslast. Während ein Arbeitnehmer in den 1960er Jahren noch von sechs Beitragszahlern gestützt wurde, sind es heute nur noch 2,7. Bis 2070 könnte dieses Verhältnis auf 1,9:1 absinken. Das bedeutet: Ohne Reformen werden zukünftige Generationen gezwungen sein, mit Beitragssätzen von bis zu 50 Prozent ihres Einkommens die Renten, Kranken- und Pflegeleistungen zu finanzieren – zusätzlich zu den regulären Steuern und Abgaben.
„Das Grundgesetz fordert, die umlagefinanzierten Sozialsysteme zu erhalten. Die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung bilden das Fundament unseres Sozialstaats, das nicht erodieren darf.", unterstreicht Gregor Kirchhof in der Einleitung des Gutachtens. Wenn jedoch die sozialen Sicherungssysteme einen demographischen Kipppunkt erreichten, seien sie nicht mehr leistungsfähig. Aktuell steuerten die Sicherungssysteme mit Volldampf auf diesen Punkt zu. Doch: „Das Grundgesetz verbietet dem Staat, dieser Entwicklung tatenlos zuzusehen. Es verpflichtet den Gesetzgeber, die Versicherungen zeitnah grundlegend zu reformieren und eigenständig zu finanzieren", mahnt Kirchhof.
Hier könnte also das Bundesverfassungsgericht ansetzen: Wie beim Klimaschutz könnte es argumentieren, dass der Staat durch unterlassene Reformen das Grundrecht der jüngeren Generationen auf eine finanzierbare soziale Absicherung und wirtschaftliche Freiheit verletzt. Eine zu hohe Abgabenlast könnte als verfassungswidrige Einschränkung der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten gewertet werden.