Fachkräftemangel in der Versicherungswirtschaft und die damit verbundenen Anforderungen an das Management

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Die Versicherungsbranche blickt einem zunehmenden Fachkräftemangel entgegen: auch, weil das Image der Branche nicht das beste ist. Zugleich werden die Tätigkeiten in Versicherungs- und Vertriebsfirmen immer komplexer. Das stellt auch neue Anforderungen an das Management der Versicherer. Ein Gastbeitrag von Jürgen Wessalowski, Lead Business Consultant bei msg systems AG, Ismaning bei München.

Die Versicherungswirtschaft steht vor einem erheblichen Fachkräftemangel. In den kommenden Jahren wird ein starker Abfluss von Know-how durch den Austritt langjähriger Mitarbeitenden in den Ruhestand eintreten. Demgegenüber steht das mangelnde Interesse an einem Arbeitsplatz in der Assekuranz und der Tatsache, dass sich der Arbeitsmarkt durch die starke Wirtschaft zum Arbeitnehmermarkt entwickelt hat. Die Arbeitslosenquote ist auf einem historischen Tiefstand.

Gewinn neuer Mitarbeiter wird Erfolgsfaktor

Potentielle Arbeitnehmer, Schul- und Studienabgänger stehen einem großen Angebot an offenen Stellen gegenüber. Mit zunehmendem Fortschritt des demographischen Wandels wird die Gewinnung von Fachkräften aber auch die Bindung dieser Mitarbeitenden ein zentraler Erfolgsfaktor sein, damit ein Versicherungsunternehmen seine Ziele erreicht. Dabei müssen schon bei der Rekrutierung von Fachkräften neue Wege gegangen werden. Es ist sicherlich nicht mehr ausreichend, Stellenanzeigen in Tageszeitungen, auf Online-Plattformen oder der eigenen Homepage zu schalten und sich dann abwartend zu verhalten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Ausbildungsplätze oder um Stellen für Berufsqualifizierte handelt.

Die Gewinnung von Fachkräften durch direkte Ansprachen über Ausbildungs- oder Arbeitgebermessen und/oder Personaldienstleister verspricht eine signifikant höhere Erfolgsquote bei der Besetzung vakanter Stellen im Versicherungskonzern. In der Vergangenheit sehr populär wurden auch Konzepte wie „Mitarbeiter werben Mitarbeiter“. Diese meist mit Prämienzahlungen verbundene Anwerbung neuer Mitarbeiter erleichtert die Gewinnung von Personal, weil die eigenen Mitarbeitenden für das Unternehmen werben. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass diese Art von Mitarbeiteranwerbung zwar die Anzahl der Bewerber steigert, ein ordentliches und qualifiziertes Auswahlverfahren aber dennoch unumgänglich ist.

Die Versicherungsbranche - spannender, als viele potentielle Bewerber glauben

Die Anzahl von Bewerbungen auf vakante Stellen - aber auch Initiativbewerbungen - sind in der Versicherungswirtschaft in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Dies liegt zum einen sicherlich an dem weniger positiven Image der Versicherungsbrachen. Zum anderen resultiert das auch aus dem weit verbreiteten Bild eines ernüchternden Büroalltags in einem Verwaltungsgebäude.

Dabei sind die Berufsbilder und Aufgaben in einem Versicherungsunternehmen wesentlich abwechslungsreicher als gemeinhin angenommen. Durch die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung werden die Aufgaben in der Assekuranz anspruchsvoller und vielschichtiger. Dadurch wird sich das Berufsbild und die Berufsausbildung in der Assekuranz in den kommenden Jahren weiter verändern. Es ist davon auszugehen, dass viele standardisierte Aufgaben, zum Beispiel die Ausgabe einer elektronischen Versicherungsbestätigung oder eine Kündigungsbearbeitung, von Robotics übernommen und somit dunkel verarbeitet werden.

Dieser Wegfall von standardisierten Aufgaben und Prozessen und die damit einhergehende Zunahme von komplexeren Aufgaben erfordert die kontinuierliche Gewinnung und Entwicklung von Fachkräften, die einerseits IT-Affinität und andererseits Fachwissen mitbringen. Die Unternehmen sind somit in der Pflicht, die Mitarbeitenden so zu befähigen, dass sie in der Lage sind, diese Aufgaben in der sich ändernden Arbeitswelt im Sinne aller Beteiligten zu be- und verarbeiten. Dabei ist es erforderlich, bereits bei der beruflichen Erstausbildung neue Wege zu gehen. Es muss die Frage gestellt werden, für welchen Bereich in einem Versicherungsunternehmen qualifiziertes Personal benötigt wird und in welchen Bereichen in den kommenden Jahren die meisten Mitarbeiter die Unternehmen verlassen werden. Es sollte neben der reinen fachlichen versicherungstechnischen Erstausbildung auch Qualifikation in Schlüsselbereiche wie zum Beispiel Projekt-, Produkt- oder Vertriebsmanagement im Vordergrund stehen.

Diese Anforderungen sind in die Ausbildungslehrpläne zu integrieren, die auch im Rahmen der Berufsschule berücksichtigt werden müssen. Am Ende sollte der Auszubildende entscheiden können, für welchen Ausbildungsweg bzw. für welche weiteren Schlüsselqualifikationen er sich entscheidet. Neben diesen Anforderungen an das künftige Berufsbild bzw. die berufliche Erstausbildung in der Assekuranz spielt auch die Mitarbeiterführung und die Personalentwicklung im Sinne der Gewinnung und Bindung von Fachkräften eine entscheidende Rolle. Während sich der moderne Führungsansatz an den Stärken eines Mitarbeiters ausrichtet, hat die Personalentwicklung die Anforderungen an die neuen Aufgaben zu berücksichtigen und notwendige Qualifizierung der Belegschaft zu organisieren. Dabei muss sich die Qualifizierung der Mitarbeitenden an deren Kenntnissen, Fähigkeiten und den künftigen Anforderungen des jeweiligen Aufgabenspektrums anlehnen.

...Zusammenarbeit von Führungskraft und Personalentwicklung

Eine intensive Zusammenarbeit zwischen Führungskraft und Personalentwicklung ist von entscheidender Bedeutung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Personalentwicklung ihren ersten Ansatz in Gesprächen zwischen dem Mitarbeiter und seiner Führungskraft findet. Allerdings endet die Entwicklung nicht nach einem solchen Gespräch, welches in der Regel das Mitarbeiterjahresgespräch sein wird, sondern ist vielmehr als Regelkreislauf zu sehen. Die Führungskraft ist angehalten, die Personalentwicklung als Initiator kontinuierlich durchzuführen und gemeinsam mit den Mitarbeitenden zu besprechen bzw. aktiv zu begleiten.

Die regelmäßige Kommunikation zwischen Personalentwicklung und Führungskraft ist zwingende Voraussetzung, wobei sich der Austausch auf den aktuellen Stand der Entwicklung und vor allem auf den Zielerreichungsgrad und etwaige Zielgefährdungen konzentrieren sollte. Daneben ist es wichtig, dass die Führungskraft mit offenen Ohren im Austausch mit den Mitarbeitenden bleibt. Es gilt, in den Gesprächen die Vorstellungen, Wünsche und Anmerkungen der Mitarbeitenden aufzunehmen, um auch zu erkennen, ob gegebenenfalls eine Über- aber auch eine Unterforderung der Mitarbeitenden vorliegt.

Branchenfremde Mitarbeiter in einem komplexer werdenden Berufsfeld

Um den Bedarf von Fachkräften abzudecken, ist auch die Einstellung von branchenfremden Mitarbeitenden ein probates Mittel. Hier ist zu berücksichtigen, dass eine notwendige Einarbeitung dieser Mitarbeitenden einen wesentlich höheren Zeitansatz aufgrund der bereits beschriebenen zunehmenden Komplexität der Aufgaben in der Versicherungswirtschaft erfordert. Bei branchenfremden Mitarbeitenden ist eine sorgfältige Auswahl im Hinblick auf den Zielskill vorzunehmen. Dabei sollten zumindest Schlüsselqualifikationen wie zum Beispiel Kundenorientierung oder Kommunikationsfähigkeit von dem Bewerber mitgebracht werden. Das versicherungstechnische Know-how spielt hier eine untergeordnete Rolle.

Allerdings muss für den Aufbau von versicherungsspezifischem Wissen bei diesen Mitarbeitern ein detailliertes Einarbeitungs- bzw. Ausbildungskonzept vorliegen. Wenn diese Mitarbeiter am Ende im Kundenkontakt eingesetzt werden, muss ein solides Grundwissen in versicherungsrelevanten Themenstellungen vorhanden sein. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass sich die Vermittlung von Wissen nicht nur auf die reine Einarbeitung bezieht, sondern ein kontinuierlicher Prozess ist.

Zur Wissensvermittlung können dabei unterschiedliche Methoden zum Einsatz kommen. Über Präsenz-, Side-by-side-Schulungen oder Coachings, Wissensdatenbanken und ähnliche Angebote sollte die dauerhafte und regelmäßige Wissensvermittlung im Vordergrund stehen. Ein wichtiger und notwendiger Schritt in diese Richtung sind die IDD-Anforderungen, die sich an jeden Mitarbeiter richten, der im Kundenkontakt eingesetzt wird. Hier wurden Anforderungen über den Umfang der Wissensvermittlung verbindlich festgelegt.

Grundsätzlich sollte die Unternehmung darüber hinaus ein Interesse daran haben, dass die Mitarbeiter kontinuierlich fachlich weiterentwickelt und informiert werden. Je besser ein Mitarbeiter mit Informationen und Fachwissen versorgt wird, desto sicherer und kompetenter tritt er gegenüber dem Kunden auf. Gepaart mit einer guten Portion Empathie wird damit die Customer-Journey ein positives Erlebnis, welches letztendlich den Kunden an die Gesellschaft bindet. Neben dieser Kundenbindung wird der Mitarbeiter seine vom Unternehmen geförderte Entwicklung positiv wahrnehmen. Durch diese wertschätzende Mitarbeiterführung kann eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit und somit Bindung an das Unternehmen erreicht werden.

Weiterbildung - ohne geht es nicht

Am Ende gilt es, die Mitarbeitenden gemäß Ihren Kenntnissen und Fähigkeiten an der richtigen Stelle in der Wertschöpfungskette einzusetzen. Zu erwähnen ist noch die aktive Unterstützung der Mitarbeitenden bei Vorhaben der nebenberuflichen Weiterbildung. Idealerweise wird dieser Wunsch des Mitarbeitenden vom Arbeitgeber nicht nur monetär, sondern auch durch Flexibilität im täglichen Einsatz gefördert. Die Führungskraft sollte diesen Wunsch des Mitarbeitenden aktiv begleiten und ihn darin bestärken, auch auf die Gefahr hin, dass ein Mitarbeiter mit erfolgreichem Abschluss im Unternehmen in einen anderen Bereich wechselt. Dabei entsteht vielleicht eine Lücke an der bisherigen Stelle, dennoch verbleibt der Mitarbeitende im Unternehmen und setzt seine neu erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten in einem anderen Bereich oder in einer neuen Funktion ein. Somit erfährt die Personalentwicklung eine ganzheitliche Betrachtung über Bereichsgrenzen hinaus. Durch diese aktive Mitarbeiterentwicklung wird das volle Potential der Mitarbeitenden ausgeschöpft und das wird zu einer hohen Mitarbeiterzufriedenheit beitragen.

Fehlerkultur zulassen - und Verantwortung abgeben

Diese Entwicklung erstreckt sich allerdings nicht nur auf die fachliche Qualifizierung und dem Einsatz gemäß der vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten. Schlussendlich sind noch die Anforderungen aus der neuen Arbeitswelt zu berücksichtigen. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Führungskräfte das Kommando vorgaben und die Mitarbeitenden reine Befehlsempfänger waren. Um eine Aufgabe für den Mitarbeitenden interessant und herausfordernd zu gestalten, gilt es auch, Kompetenzen und Verantwortung abzugeben. Eine Fehlerkultur zu integrieren, die es erlaubt Fehler zuzulassen, darüber zu sprechen, den Mitarbeitenden zu bestärken und aktiv zu begleiten. Die Organisation muss sich darüber im Klaren sein, dass gerade durch Fehler und kritischen Situationen gelernt wird. Erleben die Mitarbeitenden diese Haltung, entsteht Vertrauen und Akzeptanz.

Das heißt aber auch, dass die Führungskraft loslassen, Kontrolle abgeben und einen Vertrauensvorschuss erteilen muss. Die Führungskraft muss als Leader auftreten, welche die Mitarbeitenden ermutigt, aktiviert und involviert. Dabei muss sie das Big Picture vorstellen, den Weg dahin aber den Mitarbeitenden überlassen. Denn die aktive Mitgestaltung und Mitsprache der Mitarbeitenden sind weitere wesentliche Inhalte der Personalentwicklung - aber auch der Mitarbeiterführung. Die Mitarbeitenden wollen sich mit ihren Gedanken, Ideen und Erfahrungen einbringen. Sie wollen wahr- und ernstgenommen werden.

Die Anregungen der Mitarbeitenden sollten aber nicht als Karteileichen in der Versenkung verschwinden, sondern aktiv mit den Mitarbeitenden besprochen werden. Dabei geht es nicht darum, dass jedweder Gedanke und Idee auch umgesetzt wird. Es ist schon ausreichend, wenn der Mitarbeitende ein Feedback erhält, was aus seinen Vorschlägen geworden ist. Wie sich die Organisation dazu positioniert, warum diese vielleicht nicht jetzt, sondern erst später oder auch gar nicht umgesetzt werden können. Dies ist ebenfalls Teil der Personalentwicklung, die aktiv von der Führungskraft begleitet werden muss. Personalentwicklung und wertschätzende Mitarbeiterführung sind der Schlüssel für eine langfristige und gewinnbringende Zusammenarbeit. Wie den Kunden, gilt es auch die Mitarbeitenden an das Unternehmen zu binden, Interesse für die Berufsbilder in der Versicherungswirtschaft zu wecken und die Arbeiten im Versicherungsbetrieb agil und flexibel zu gestalten, um die zukünftigen Herausforderungen der Versicherungswirtschaft mit Erfolg zu meistern.