Alles Aufschwung, oder was?

In Deutschland ist die Zahl der Vollzeitjobs in den letzten Jahren stetig zurückgegangen, hingegen die atypische Beschäftigung -verbunden mit deutlichen Lohneinbußen - sprunghaft angestiegen. Diese Entwicklung könnte sich auch mit dem prognostizierten Wirtschaftsboom im Jahr 2011 fortsetzen. Dennoch befinden sich Regierungspolitiker und Medien in einem Jubeltaumel – unter Aussparung der Tatsache, dass viele Arbeitnehmer vom Aufschwung nicht profitieren werden.


Der Wirtschaftsaufschwung hat es bis zu Dieter Nuhr geschafft. „Deutschland geht es gut, so gut wie lange nicht mehr; alle beneiden uns, die ganze Welt. Aber wir meckern und laufen mit hängenden Schultern und Mundwinkeln durchs Leben“, so der Comedian in seinem aktuellen „Satiregipfel“. Nuhr sparte auch die Information nicht aus, dass die Arbeitslosigkeit so niedrig wie lange nicht mehr sei – für das Jahr 2011 werden „nur noch“ 2,94 Millionen Menschen ohne Arbeit erwartet.

Doch kann man Dieter Nuhr dahingehend beruhigen, dass in den Medien die Zahl der Meckerer klein ist. Viele scheinen die aktuelle Einschätzung von Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) zu teilen, dass in Deutschland der Jobmotor brummt, dass das Land besser aus der Krise gekommen sei als andere Länder, ja dass viele Länder sogar neidisch auf Deutschland blicken. „Wir befinden uns auf der Schnellstraße zur Vollbeschäftigung“, verkündete Brüderle bei der Präsentation der Wirtschaftsprognose für 2011 und behauptete mit Blick auf die europäischen Nachbarn: „Wir gehen mit Siebenmeilenstiefeln voran, die anderen trotten im Gänsemarsch hinterher.“

Über positive Presse braucht sich Brüderle folglich keine Sorgen zu machen. Von einem „XXL-Aufschwung“ schreibt das Handelsblatt. Die Tagesschau verkündet „sensationelle Zahlen“ und titelt „Mit Siebenmeilenstiefeln in den Aufschwung“. In anderen Zeitungen ist sogar von „Wachstum ohne Ende“ die Rede – auch dies ein Ausdruck, den Brüderle geprägt hat. Steuert Deutschland also auf ein neues Wirtschaftswunder zu?

Wenn sich Arbeit nicht mehr lohnt: prekäre Beschäftigung und wachsender Niedriglohnsektor

Einer, der da zum Beispiel „meckert“, ist Frank-Jürgen Weise. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit prognostizierte in einem Interview mit dem Spiegel Schrumpflöhne für das kommende Jahr und diktierte dem Nachrichtenmagazin wenig Erfreuliches ins Mikrofon: „Es wird keinen Job-Boom in der Breite geben.“ Vielmehr zeige sich laut Weise eine klare Tendenz von der Vollzeit- zur Teilzeitstelle, auch die Zahl der Minijobs werde weiter zunehmen. „Das Arbeitsvolumen wird also auf mehr Menschen verteilt. Dieser Trend wird sich in diesem und in den kommenden Jahren festigen.“

Immer mehr Menschen in Deutschland gehen einer sogenannten „atypischen Beschäftigung“ nach, müssen mit Teilzeitjobs, Minijobs, Leiharbeit oder geringfügiger Arbeit Vorlieb nehmen. In der Zeit zwischen 1998 und 2008 stieg die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse um 46,2 Prozent, sodass 7,7 Millionen Erwerbstätige betroffen waren. Hingegen gingen in den Jahren von 2000 bis 2008 fast 2,3 Millionen Vollzeitstellen verloren (ohne Leiharbeit, Angaben nach Statistisches Bundesamt 2009).

Und in keinem anderen europäischen Land ist der Niedriglohnsektor so schnell gewachsen wie in Deutschland. Waren im Jahr 1995 noch 4,42 Millionen Menschen im Niedriglohnsektor tätig, so sind es im Jahr 2008 bereits 6,55 Millionen gewesen. Mit anderen Worten: Jeder Fünfte Deutsche erhält für seine Arbeit einen Lohn, der weniger als zwei Drittel des durchschnittlichen Stundenlohns beträgt. Eine niedrige Bildung kann hierfür kein Argument sein, denn 72 Prozent aller Niedriglöhner verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung, acht Prozent sogar über einen Studienabschluss.
Volkswirte kritisieren seit Jahren, dass der Aufschwung in Deutschland vor allem auf einem Anstieg der Exporte beruht – und sich der Wirtschaftsstandort gegenüber anderen Industrienationen einen Wettbewerbsvorteil verschafft, indem Niedrig- und Dumpinglöhne toleriert, ja sogar staatlich gefördert werden.

So zeigt sich die aktuelle Arbeitsmarktentwicklung weitaus widersprüchlicher, als es die aktuellen Jubelmeldungen vermuten lassen. Auf der Habenseite ist ein Anstieg der Tariflöhne zu verbuchen, ungebremst hohe Exportzahlen, ein deutlicher Rückgang der Kurzarbeit, auch ein Rekordhoch an Erwerbstätigen: Rund 40,37 Menschen waren im Jahr 2010 erwerbstätig, so viele wie nie zuvor.

Zugleich ist jedoch die Zahl jener Menschen außerordentlich hoch, die gerne mehr arbeiten würden oder Dumpinglöhne beziehen, mit deutlichen Verlusten bei der Lebensqualität. Selbst wenn man die aktuelle Jubelstimmung gern teilen würde, ist doch die Psychologie ein nicht zu unterschätzender Einflussfaktor der Wirtschaftsentwicklung – so bieten auch nachfolgende Argumente einen Grund zur Sorge:
  • Die Industrie schafft keine neuen Arbeitsplätze.
    Wie die Financial Times Deutschland berichtete, sind neue Stellen vor allem im Dienstleistungssektor und in der Leiharbeit entstanden. Als besonderer Jobmotor entwickelt sich demnach das Gesundheits- und Sozialwesen: Allein im Oktober 2010 war hier ein Plus von 122.000 Stellen zu verzeichnen. Dem entgegen wurden in der Industrie seit Anfang 2009 sogar 399.000 Stellen abgebaut. 
Der Jobanstieg im Sozial- und Gesundheitswesen ist jedoch nicht auf konjunkturelle Maßnahmen zurückzuführen, sondern eher auf die demographische Entwicklung: Es gibt schlichtweg mehr alte und kranke Menschen, die umsorgt werden müssen. Diese Tendenz wird anhalten. „Es ist ein ganz klarer Trend, dass in den kommenden Jahren mehr Jobs im Dienstleistungssektor als in der Industrie geschaffen werden“, sagte Andreas Rees, Volkswirt von Unicredit, der Financial Times Deutschland.

  • Der Einzelhandel schwächelt weiter.Wer im Dezember die Experteneinschätzungen in den Zeitungen las, musste den Eindruck gewinnen, die Deutschen kaufen die Läden leer, übernachten vielleicht sogar in den Kaufhäusern, um den privaten Konsum in die Höhe zu treiben. Die Händler verbreiteten eine euphorische Stimmung, von einer „Konsumparty“ der Deutschen war zu lesen.

    Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Zwar konnte der Einzelhandel seinen Umsatz im Jahr 2010 real um 1,2 Prozent steigern. Doch war der Absatz im Krisenjahr zuvor besonders stark eingebrochen - nominal gingen die Umsätze 2009 um 3,7 Prozent zurück, real um 3,1 Prozent. Folglich ist das Vorkrisenniveau des privaten Konsums im Jahr 2010 noch immer nicht erreicht worden.

    Die Daten für den Dezember 2010 fielen besonders ernüchternd aus. Real brach der Konsum im Vergleich zum Vorjahresmonat um 1,3 Prozent ein, obwohl ein Verkaufstag mehr zur Verfügung stand. Experten geraten ob dieser mageren Bilanz in Erklärungsnot, prognostizierten sie doch vor Weihnachten ein deutliches Ansteigen des Konsums. Einige schieben die negative Bilanz nun einfach auf den strengen Winter: vielleicht wollten die Menschen mehr konsumieren, aber die Bahn kam nicht.

    Und auch die Prognosen für 2011 verheißen nichts Gutes. Der Hauptgeschäftsführer des Branchenverbandes HDE, Stefan Genth, gab zu Protokoll, dass die realen Einzelhandelsumsätze wegen der steigenden Preise für Energie und Krankenkassen auch im Jahr 2011 stagnieren könnten. Zwar erwartet er ein moderates Umsatzplus von 1,5 Prozent - aber „einen Aufschwungsboom wird der Wirtschaftszweig nicht erleben“

  • Viele Menschen können von ihrer Arbeit nicht leben. 3,18 Euro Stundenlohn für eine Frisörin in Thüringen, 5,20 Euro für eine Fachkraft im Wachgewerbe – bei solchen Löhnen ist es nicht verwunderlich, dass eine steigende Zahl von Arbeitnehmern auf zusätzliche Leistungen der Jobcenter angewiesen ist. „Langfristig wird es sogar mehr Menschen geben, die einen Zusatzjob oder staatliche Zuschüsse brauchen“, erklärte Arbeitsagentur-Chef Weise dem Spiegel.
    
Und auch die soziale Ungleichheit nimmt weiter zu: Laut WSI-Jahresbericht ist im ersten Halbjahr 2010 der Anteil der Unternehmergewinne und Kapitalrenditen am Volkseinkommen gestiegen, während die Lohnquote sogar sank. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts müssen derzeit rund zwanzig Prozent aller deutschen Haushalte mit einem Bruttoeinkommen unter 1.500 Euro auskommen.

    Weil zahllose Niedriglöhner zusätzlich auf Hartz IV angewiesen sind, ist es streng genommen auch nicht korrekt, von „Arbeitslosengeld“ zu sprechen. Denn für viele handelt es sich um eine staatliche Lohnzusatzleistung. Allein im August 2010, als die Wirtschaft besonders stark wuchs, bezogen rund 1,4 Millionen Menschen Arbeitslosengeld, obwohl sie einer Erwerbstätigkeit nachgingen. Ihre Zahl stieg trotz Wirtschaftsboom weiter an, es waren 66.000 Menschen mehr als im August 2009.
    Unter ihnen befanden sich 351.000 „Aufstocker“, die in Vollzeit arbeiteten, aber trotz ihrer Arbeit weniger Geld als das staatlich zugesicherte Existenzminimum zur Verfügung hatten. 
Auch die Zahl der Billigjobber ist nach wie vor hoch. Im Monat September war für 4,87 Millionen Erwerbstätige ein Job auf 400-Euro-Basis die alleinige Verdienstmöglichkeit, von diesen Minijobbern bezogen 697.000 zusätzlich Hartz IV (Zahlen nach Bundesagentur für Arbeit, Monatsbericht Dezember).

    Die Arbeitsagentur lässt sich die Subventionierung des Niedriglohnsektors einiges kosten: Jährlich werden hierfür rund 11 Milliarden Euro ausgegeben. Das entspricht circa einem Viertel aller Hartz IV-Ausgaben.

  • Der Grad der Unterbeschäftigung ist in Deutschland sehr hoch.
    Unter dem Titel „Rund neun Millionen Menschen wünschen sich (mehr) Arbeit“ hob die Autorin Dr. Martina Rengers in einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts (Juni 2010) auf das Phänomen des ungenutzten Arbeitskräftepotentiales ab, wonach die offizielle Erwerbslosenquote als Indikator allein nicht ausreicht, um das Phänomen der Unterbeschäftigung in Deutschland zu erfassen. Darüber hinaus lohnt es sich, zwei weitere Personengruppen in den Blick zu nehmen:
    • Als „Stille Reserve“ werden Nichterwerbspersonen bezeichnet, die gerne arbeiten würden, aber dem Arbeitsmarkt kurzfristig nicht zur Verfügung stehen und deshalb in den letzten vier Wochen auch nicht aktiv nach Arbeit gesucht haben.
      Die Gründe dafür können die Pflege von Familienangehörigen, Weiterbildung oder Resignation bei der Arbeitssuche sein. In der Arbeitslosenstatistik tauchen diese Menschen jedoch nicht auf. Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamts zählten im Krisenjahr 2009 rund 1,2 Millionen Menschen zur „Stillen Reserve“.
    • Hinzu kommen rund 4,2 Millionen Unterbeschäftigte, die nur Teilzeit oder geringfügig arbeiten, jedoch mehr arbeiten zu wollen. Denn oft ist die Teilzeitarbeit mit einem niedrigen Lohn und Einbußen bei der Lebensqualität verbunden, so dass die Unterbeschäftigten auch aktiv nach einer neuen Arbeit suchen.

  • Auch wenn sich die Zahlen auf das Krisenjahr 2009 beziehen, so sind Martina Rengers Ausführungen aufschlussreich. Denn rechnet man die drei Personengruppen „Erwerbslose“, „Stille Reserve“ und „Unterbeschäftigte“ zusammen, so ergibt sich ein kritischeres Bild der aktuellen Beschäftigungssituation, als es die offiziell verkündete Erwerbslosenzahl des Bundesinstituts für Wirtschaft vermuten lässt: Fast 9 Millionen Menschen äußerten im Vorjahr den Wunsch, mehr und länger zu arbeiten. Mit einem „ungenutzten Arbeitskräftepotential“ von 20,1 Prozent schneidet Deutschland im europäischen Vergleich schlecht ab, gegenüber Ländern wie dem Spitzenreiter Niederlande, das lediglich ein ungenutztes Arbeitskräftepotential von 8,1 Prozent aufweist.


3 Millionen Arbeitslose? Oder doch 4,3 Millionen?

Bliebe zum Schluss noch zu prüfen, wie die überraschend niedrige Arbeitslosenzahl zustande kommt. Befinden wir uns wirklich „auf der Schnellstraße zur Vollbeschäftigung“, wie Rainer Brüderle behauptet?

In den letzten Jahren hat die Bundesagentur für Arbeit einige Kreativität bewiesen, die Arbeitslosigkeit schönzurechnen. Bestimmte Personengruppen verschwinden aus der Statistik, obwohl sie streng genommen kein Arbeitsverhältnis haben.

Nicht immer ist nachvollziehbar, warum manche Personen als arbeitslos erfasst werden, andere hingegen nicht. Und es gilt: Wer offiziell als arbeitslos bezeichnet wird, definieren mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technik sowie der Agentur für Arbeit genau jene Interessengruppen, die von einer niedrigen Arbeitslosenzahl besonders profitieren.

Die weit größte Lücke in der Statistik hinterlassen jene Arbeitssuchende, die an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme teilnehmen (Ein-Euro-Jobber, Personen in Weiterbildung, Übergangsgeldempfänger, Existenzgründer mit Zuschüssen vom Staat). Sie beziehen Arbeitslosengeld, werden aber bei den Arbeitslosenzahlen nicht berücksichtigt.
Zusätzlich werden seit dem Mai 2009 all jene Arbeitslosen nicht mehr hinzugezählt, die von einem privaten Jobvermittler betreut werden: Auch sie fallen aus der Statistik.

Seit Ende 2007 besteht zudem eine Sonderregelung für ältere Arbeitssuchende, die das 58. Lebensjahr vollendet haben. Erhielten die Hilfsbedürftigen länger als ein Jahr Arbeitslosengeld, so gelten sie offiziell nicht mehr als arbeitslos. Auch hier kann gefragt werden, mit welcher Begründung man ihnen die Arbeitslosigkeit abspricht, denn das Ausscheiden aus der Arbeitswelt bedeutet für diese Menschen deutliche Einbußen bei der Rente und erfolgt keineswegs freiwillig. Karl Brenke vom Forschungsinstitut DIW kritisiert: ebensogut könne man alle Blauäugigen aus der Statistik herausnehmen.

Obwohl diese Personengruppen von der Arbeitsagentur unter der erweiterten Kategorie „Unterbeschäftigung“ erfasst werden, so gelten sie offiziell nicht als „registrierte Arbeitslose“ und tauchen folglich in keiner Arbeitslosenmeldung auf. Rechnet man sie jedoch hinzu, so müsste für den Dezember 2010 die offizielle Arbeitslosenzahl um ca. 1,1 Millionen Menschen höher angesetzt werden – sie würde die Vier-Millionen-Grenze überschreiten.

Auch bildet die offizielle Arbeitslosenzahl das quantitative Niveau der Arbeit nicht ausreichend ab. So gilt laut SGB III als arbeitslos, wer weniger als 15 Stunden pro Woche arbeitet: Unzählige 400-Euro-Jobber mit niedrigem Stundenlohn, die eine längere Wochenarbeitszeit aufweisen, kippen so ebenfalls aus der Statistik. Im Krisenjahr 2009 gingen laut einer Meldung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ca. 7 Millionen Menschen einem 400-Euro-Job nach, für 4,93 Millionen Arbeitnehmer war dies sogar die einzige Verdienstmöglichkeit.

So könnte Brüderles Worttsunami zum deutschen Aufschwung kritisch betrachtet durch weniger hohe Wellen weggespült werden. Denn wer wenig verdient, kann auch nicht übermäßig konsumieren. Und von wem soll der deutsche Binnenmarkt angekurbelt werden, wenn kaum Geld für mehr als das Nötigste bleibt?

Mirko Wenig