Versicherer unterschätzen Kundenbedürfnisse

Die Versicherungswirtschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz geht nur unzureichend mit den Bedürfnissen ihrer Kunden um. Dies zeigt eine aktuelle Branchen- und Konsumentenstudie des Managementberatungs-, Technologie- und Outsourcing-Dienstleisters "Accenture" in Zusammenarbeit mit dem "Institut für Versicherungswirtschaft der Universität St. Gallen".


Demnach haben sich die Einstellungen, das Verhalten und die Erwartungen der Kunden innerhalb der vergangenen fünf Jahre deutlich verändert. Die Anbieter indes werden dieser Entwicklung meist noch nicht gerecht. Darüber hinaus sehen die Versicherer eine deutliche Verschärfung der regulatorischen Anforderungen auf sich zukommen.

Für die Studie wurden 762 Führungskräfte der größten Versicherungsunternehmen im deutschsprachigen Markt und 1.519 Versicherungskunden befragt. Untersucht wurden unter anderem die Beziehung zwischen Anbieter und Kunde und die Dynamik der Veränderungen in der Branche sowie Erfolgsfaktoren in der Wertschöpfung der Versicherungsgesellschaften.
Dabei wird im Vergleich zur vorhergehenden Erhebung im Jahr 2005 vor allem deutlich: Der Kunde wird unterschätzt. Gerade einmal 19 Prozent der Befragten aus dem Bereich Lebensversicherung und 28 Prozent der Befragten aus dem Segment Nicht-Leben spürt einen Veränderungsdruck aufgrund gewandelter Kundenbedürfnisse. Tatsächlich haben sich die Kundenansprüche und Bedürfnisstrukturen jedoch schon längst deutlich verändert.

Mit „Kundenbedürfnissen 2.0“ umgehen

Der „Versicherungskunde 2.0“ tritt gegenüber den Versicherern heute und in Zukunft deutlich informierter und selbstständiger auf.
Die zunehmende Nutzung neuer Medien und die steigende Produkttransparenz spielen hierbei eine besondere Rolle. So erwarten 91 Prozent der Branchenvertreter im deutschsprachigen Versicherungsmarkt in den kommenden fünf Jahren eine weitere Zunahme der Preissensitivität.
Auch eingesteigertes Bedürfnis nach Transparenz (89 Prozent) und Flexibilität (86 Prozent) wird vom überwiegenden Teil der Unternehmen konstatiert. Zudem sehen sich die Versicherer mit einem besseren Informationsstand der Kunden (83 Prozent) und einer steigenden Eigenständigkeit im Kaufprozess konfrontiert. Zentrale Bedeutung kommt vor diesem Hintergrund der Qualität von Serviceleistungen zu.
„Während viele Versicherer noch voll und ganz auf Markenstärke setzen, achten die Kunden bei ihrer Anbieterwahl vornehmlich auf den Preis und die Service-Qualität“, sagt Dr. Markus Wersch, Geschäftsführer im Bereich Versicherungen bei "Accenture". „Die Ausrichtung des Vertriebsmodells spielt dabei eine herausragende Rolle.“

Multikanal-Vertrieb als Erfolgsfaktor

Die Versicherungsunternehmen gehen auch weiterhin von einem „Push“-Ansatz im Vertrieb aus (76 Prozent), messen aber künftig insbesondere dem persönlichen Kontakt als erfolgsentscheidendem Faktor für Kundenvertrauen und Loyalität eine besondere Bedeutung bei.
Dies wird durch die Kundensicht bestätigt. So bringt der überwiegende Teil der Konsumenten in Deutschland (69 Prozent), Österreich (78 Prozent) und der Schweiz (80 Prozent) dem persönlichen Berater mehr Vertrauen entgegen als der Versicherungsgesellschaft selbst.
Dies gilt aufgrund der hohen Sensibilität insbesondere für das Lebensversicherungs- und Vorsorgegeschäft. „Fast die Hälfte der befragten Studienteilnehmer bekräftigen die Notwendigkeit, den Zugang über verschiedene, stärker an den Kundenbedürfnissen angepassten Kommunikations- und Vertriebskanälen auszurichten“, sagt Prof. Dr. Hato Schmeiser, Geschäftsführender Direktor des "Instituts für Versicherungswirtschaft der Universität St. Gallen".
Damit entwickelt sich der Multi-Kanal-Ansatz sowohl im Leben- als auch im Nicht- Lebengeschäft zu einem Standard, wobei den technologisch gestützten Kanälen (darunter auch dem mobilen Vertrieb), eine steigende Bedeutung beigemessen wird.
Zudem werden die Versicherungsunternehmen nach eigenen Angaben in den kommenden Jahren über ein zielgruppenspezifisches Marketing stärker als bisher einzelne Kundengruppen fokussieren. „Versicherer müssen heute und in Zukunft darauf achten, den Kunden konsistent über alle Kanäle zielgruppengerecht hinweg anzusprechen“, sagt Dr. Markus Wersch. „An der Modernisierung und vor allem einer engeren Integration der Vertriebs- und Kundenkanäle kommt daher kein Marktteilnehmer vorbei.“

Weitere Erkenntnisse der Studie
  • 59 Prozent der Befragten gehen in den kommenden Jahren von einem Mangel an qualifizierten Mitarbeitern aus und sehen Lösungsansätze insbesondere in der verbesserten Suche, Ausbildung und Bindung der Mitarbeiter sowie der Schaffung einer ansprechenden Unternehmenskultur. Zum Schlüsselthema wird dabei der Vertrieb. 85 Prozent der Branchenexperten sehen sich in diesem Feld zukünftig einem intensiven Kampf in um qualifizierte, motivierte und leistungsstarke Talente ausgesetzt. „Dies stellt einen dramatischen Wandel gegenüber den Befragungsergebnissen vor 5 Jahren dar“, sagt Prof. Dr. Hato Schmeiser.
  • Bei den abgefragten Faktoren des Marktumfelds, aus denen in den kommenden fünf Jahren die größten Veränderungen für die Branche resultieren, dominieren vor allem zunehmende Regulierungsmaßnahmen. 72 Prozent der Vertreter aus dem Segment der Lebensversicherung und 53 Prozent aus dem Segment Nicht-Leben bestätigen diesen Trend. Ein integriertes Risikomanagement wird damit nicht nur zur Notwendigkeit (77 Prozent der Befragten sehen dies als Schlüsselmaßnahme), sondern kann zu einem echten Wettbewerbsvorteil führen. Weitere externe Faktoren, die insbesondere die Lebensversicherer betreffen, sind die demographische Entwicklung (54/33 Prozent bei Leben/Nicht-Leben), gesetzliche Vorschriften in der Kundenbetreuung (57/41 Prozent) und die Entwicklung an den Kapitalmärkten (55/24 Prozent).
  • Um der wachsenden Preissensitivität der Kunden und den steigenden regulatorischen Anforderungen zu begegnen, werden Versicherer in den kommenden Jahren gezwungen sein, ihre internen Strukturen und damit auch ihre Wertschöpfungstiefe zu überdenken. Daher verwundert nicht, dass Industrialisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen auch weiterhin im Fokus interner Projekte stehen. Allen voran: Prozessoptimierung (83 Prozent), gezieltes Vertriebsmanagement (79 Prozent) sowie striktes Kostenmanagement (76 Prozent). Insgesamt bleibt das hoch integrierte Wertschöpfungsmodell der Versicherer jedoch noch bestehen. Möglichkeiten der Auslagerung an Dritte werden – bis auf den Bereich IT und Asset-Management (Auslagerungsgrade bei 59 und 44 Prozent) – laut der befragten Versicherungsentscheider auch in Zukunft nur eigeschränkt genutzt.
    „Die Versicherer müssen jetzt auf die deutlichen Forderungen ihrer Kunden und die Rahmenbedingungen am Markt eingehen“, sagt Dr. Markus Wersch. „Nur über eine Anpassung ihrer Serviceleistungen, des Vertriebsmodells sowie der Kosten- und Risikomanagementstrukturen werden sie sich in einem immer intensiveren Wettbewerbsumfeld und dem zunehmend stärker regulierten Markt erfolgreich behaupten können.“